Mitte der Zeit (5/5)

„Es muss Schluss damit sein, dass so viele Bücher gelesen werden.“
(Mao Zedong, 1966)

In Deutschland und Frankreich wird mit staunenswerter Produktivität philosophiert und publiziert. Und nicht nur springt (in Baltimore) ein gewisser Jaques Derrida auf die Bühne – 1966 erscheint auch eines der meistzitierten Buch-Enden überhaupt: die letzten Zeilen in Foucaults Ordnung der Dinge. Sie wissen schon, von wegen Verschwinden des Menschen „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ und so. Nahezu unbekannt, aber für uns vielleicht wichtiger: Texte, bei denen es letztlich auch um das Verschwinden des Menschen geht – aber nicht denkerisch, sondern materiell.

Am 1. Januar 1966 erblickt ein in dieser Hinsicht bemerkenswerter Text das Licht der Welt: Die Rede ist von Analytical Economics, ein schwerwiegendes und schwer zugängliches Werk des rumänisch-amerikanischen Ökonomen Nicholas Georgescu-Roegen. Dieser Mann, von seinen Fans auch NGR genannt, steht für die Botschaft, dass die Wissenschaft von der Wirtschaft die Erkenntnisse der Wissenschaften von der Natur nicht ignorieren darf. Ökonomie ohne Physik und Biologie ist witzlos und falsch – diese Erkenntnis unter die Leute gebracht zu haben, ist NGRs Vermächtnis und macht ihn zu einem Gründervater der Ökologischen Ökonomie. Nicht, dass das alle gleich gemerkt hätten – und viele ignorieren die Sache auch heute noch. Aber 1966 begann mit der Introduction zu NGRs Buch etwas Neues, das genauso bedeutsam ist wie Pet Sounds, Revolver und In Cold Blood.

Der andere Gründervater der Ökologischen Ökonomie legt 1966 ebenfalls einen Text vor, dem ähnliche Bedeutung zukommt, sich aber eine ganz andere Rhetorik zu eigen macht. Wo NGR seine Leserschaft mit komplizierten Formulierungen und mathematischen Formeln quält, setzt Boulding mit The Economics of the Coming Spaceship Earth auf eine klare Sprache und Metaphern, die man nicht vergisst, wenn man sie einmal gehört hat: Cowboy-Wirtschaft, Astronauten-Wirtschaft, Raumschiff Erde. Die stets bewegliche Frontier, so Bouldings Botschaft, ist zu Ende – wir haben es mit echten, harten und nicht verschiebbaren Grenzen der Natur zu tun – Grenzen des Wachstum, wie man das ein paar Jahre später nennen würde.

Die Raumschiff-Metapher (die in diesem Jahr auch in einem Buch von Barbara Ward verhandelt wird) dominiert das Jahr. Bouldings Raumschiff insbesondere ist ein paradoxes Emblem, denn in diesem Jahr der enthemmten Innovation beschwört diese Metapher ja nicht die unendlichen Weiten, zu denen sich das Raumschiff Enterprise 1966 (wann sonst) aufmacht, sondern die beinharten Grenzen, die der Planet Erde dem menschlichen Treiben setzt. In einem Jahr der Grenzerweiterungen und -übertritte macht Boulding deutlich, dass auch alles Ökonomische, Kulturelle und Politische eine materielle und energetische Grundlage hat, ohne die buchstäblich nichts geht. Boulding fordert, von der rücksichtslosen Cowboy-Wirtschaft auf den Modus einer Astronautenwirtschaft umzustellen. Heute nennt man diesen Modus „Nachhaltigkeit“, und man kann ohne Übertreibung sagen, dass die moderne Fassung dieses Leitbilds ihre Geburtsstunde 1966 hatte – mit Boulding und Georgescu-Roegen als Geburtshelfer.

Die kulturelle Wirklichkeit des Jahres war freilich nicht vom Endlichkeitsdenken eines Kenneth Boulding geprägt, sondern von den buchstäblich phantastischen Leistungen von Leuten wie Brian Wilson und John Lennon, von den Brutalitäten in China und Vietnam – und von den Raumschiffen, die durch dieses Jahr fliegen. Mit Star Trek kommt eine Serie in die Welt, die das Morgen als technisch perfekt und humanistisch aufgeklärt ausmalt: eine Habermassche Welt ohne Energieknappheit, wenn Sie so wollen.

Auch in Deutschland sorgt ein Raumschiff für Furore, nämlich der von Commander McLane geführte schnelle Raumkreuzer Orion. Raumpatrouille Orion zeigt, ähnlich wie Star Trek und viele andere Science Fiction, eine Welt voller technischer Wunder und Errungenschaften. Das tut auch die SciFi-Serie Time Tunnel, in der zwei Wissenschaftler pausenlos zwischen Vergangenheit und Zukunft hin- und herreisen. Es sagt sehr viel über 1966, in welches Jahr sich diese Serie hineinphantasiert – die Zukunft ist nicht weit. Nicht mal so weit wie das Jahr 2000. Nein, Time Tunnel, 1966 auf Sendung gegangen, spielt tatsächlich im Jahre 1968! Die Serie stellt sich also vor, dass die Zukunft eigentlich schon begonnen hat. Heute wissen wir, dass das stimmt: Mit Pet Sounds und Revolver, Reagan und Django, NGR und Boulding hat 1966 die Zukunft begonnen: unsere Gegenwart.