Jungtiere.

Wie bitte? Jungtiere? Was soll das? Nun: Wie wir mit Tieren umgehen, hat etwas mit unserer Lage zu tun. Ökologisch. Wirtschaftlich. Nicht zuletzt: kulturell. Wir machen nicht nur etwas mit den Tieren – was wir da tun, macht auch etwas mit uns. Mir geht es dabei um das Ob des Tierkonsums, aber ganz wesentlich auch um das Wie. Dass wir Tiere züchten, töten, essen – das ist das eine. Wie wir dabei verfahren, welche Kriterien (wenn überhaupt) uns leiten, ist das andere, für das Verständnis des Ausnahmezustandes mindestens ebenso Wesentliche. Jungtiere, das sind zum Beispiel Kätzchen, Welpen und Fohlen, im vorliegenden Zusammenhang aber noch mehr Lämmer und Zicklein und ganz besonders Küken, Kälber und Ferkel. Viele, sehr, sehr viele von diesen Tieren und ihren älteren Artgenossen (und um die geht es natürlich genauso, Jungtiere passen einfach in die alphabetische Ordnung dieses Buches) werden jährlich, oftmals unter äußerst betrüblichen Bedingungen, aufgezogen und getötet, nicht selten werden sie – ebenfalls oft unter sehr unguten Bedingungen und bisweilen über weite Strecken – durch die Gegend transportiert.

Es geht hier (natürlich) nicht um eine tiefschürfende Tierethik. Eine fundierte ethische Reflexion unseres Umgangs mit Tieren sprengt den Rahmen dieses Buches ebenso wie die Fachkompetenz seines Autors. Worum es geht: Eine Intuition, wie sie schön im folgenden Satz zum Ausdruck kommt – er stammt aus Jan Ross’ Rezension von Arundhati Roys Roman Das Ministerium des äußersten Glücks: „Dass man sich dem allgemeinen Verderben entgegenstemmt, heißt nicht, dass man einen Straßenköter ignorieren dürfte.“ Ja. Auch wenn es um große Dinge wie Freiheit, Wohlstand und die Überwindung des Ausnahmezustandes geht, darf uns das Wohl von Tieren nicht egal sein. Zumal im Westen mit seinem hohen Maß an Güterversorgung und Sicherheit schulden wir es unseren Mitgeschöpfen, sie wie Mitgeschöpfe zu behandeln und nicht wie Sachen, wie Dreck, wie Nichts. Das wir dieser Verantwortung nicht nachkommen, ist wichtig für den Ausnahmezustand.

Denn: Der Umgang mit Tieren ist wie wenige andere Dinge auf der Welt engstens mit drei Themen verbunden, die für unsere Fragestellung zentral sind und die daher in je eigenen Kapitel erörtert werden: Eskalation, Opfer und Verkennung. Fast nirgends zeigen sich die für die Moderne charakteristischen und selbstgefährdenden Eskalationstendenzen wie in der Perversion der industriellen Tiernutzung. An keiner Stelle zeigt sich deutlicher, dass „Opfer“ ein Konzept ist, den die Moderne trotz aller intensiven Bemühungen einfach nicht los wird. Und bei fast keinem anderen Thema versteht es die moderne Gesellschaft derart, die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis zu nehmen. Juristisch gelten Tiere meist als Sachen, und gesellschaftstheoretisch kommen sie selten vor, zumal wenn man soziologischen Ansätzen folgt, für die Gesellschaft nur aus Kommunikation besteht. Und nicht aus Aufzucht, Transport und Verzehr anderer Lebewesen.

In gewisser Weise ist dieses Kapitel das „einfachste“ in diesem Buch. Es geht darum, dass Tiere für von Menschen verfolgte Zwecke genutzt werden. Genauer: Es geht darum, dass unfassbar viele Tiere für von Menschen verfolgte Zwecke oft auf unfassbar grausame Art und Weise genutzt werden. „Einfach“ finde ich das deshalb, weil man hier nicht lange herumargumentieren und abwägen muss, sondern klar und deutlich sagen kann: So, wie die Sache jetzt läuft, geht es nicht. Darf es nicht gehen. Oder, wie es in der diesbezüglich wohl unverdächtigen Frankfurter Allgemeinen Zeitung heißt: „Menschen sind Schweine“. Natürlich spielen Abwägungsprozesse eine Rolle, zumal wenn es um hungrige Menschen und lebensrettende Medikamente geht. Aber im Groben und Ganzen gilt, was die Christian Geyer in der FAZ schreibt: Wenn es um Tiere geht, sind wir Schweine. Um dieses recht simple Faktum geht es hier – und, wie gesagt, nicht um eine ethisch-philosophisch oder gar spirituell-religiös fundierte Position zum Tierleid. Geyer schreibt zum Thema Massentierhaltung etwas, dessen Treffsicherheit und Dichte ein längeres Zitat rechtfertigt:

„Bei diesem Thema geht es nicht ohne Drastik ab, dieses Thema ist ganz Drastik, und wehe, wenn es uns einfiele, über die Massentierhaltung anders als drastisch zu sprechen. Allein dass dieses Thema uns 2017 in diesem wohlhabenden Land überhaupt noch beschäftigen muss, dass nicht schon längst Schluss ist mit der qualvollen Massierung von Tierleibern, wo man das ganze Ausmaß des Elends in den auf quantitative Steigerungslogik getrimmten Zuchtbetrieben und Schlachthöfen doch inzwischen längst kennt, es sich auf sprachlos machenden Bildern anschauen, es in aufrüttelnden Büchern nachlesen kann – allein dies eben ist ein Vorgang, der an Drastik nicht zu überbieten ist, ein menschlicher Makel, geeignet, die zivilisatorische Selbstbeschreibung als Makulatur zu erweisen.“

Ja. So. Ist. Das. Die Formulierung in der FAZ deutet schon an, dass das Thema nicht nur im beschriebenen Sinne einfach ist, sondern eben auch hoch emotional. Wenn man Tiere mag – und wer mag eigentlich keine Tiere? – kann man nicht akzeptieren, wie auf dieser Welt mit den meisten Tieren umgegangen wird: wie sie gezüchtet werden, wie sie aufwachsen, wie sie leben, wie sie transportiert werden, wie sie getötet werden. All das ist – trotz zunehmender Ausnahmen – die Regel. Wie der Mensch mit Tieren umgeht ist oft, viel zu oft grausam, ekelhaft, unerträglich, man ist versucht zu sagen: menschenunwürdig. Uns unwürdig. Und schon deshalb „passt“ das Thema so sehr zum Ausnahmezustand.

Das Töten und Verzehren von Tieren ist eine zentrale Eigenschaft der westlichen Lebensweise. (Die folgenden Zahlen nehme ich aus dem sehr empfehlenswerten Buch Imperiale Lebensweise  von Ulrich Brand und Markus Wissen.) 2012 wurden weltweit sage und schreibe 65 Milliarden (sic!) Landwirbeltiere getötet, um von Menschen verzehrt zu werden – das sind pro Mensch durchschnittlich über 40 Kilogramm, im reichen Westen nahezu 80. Kleinkinder und Rentnerinnen eingerechnet isst jede Person im Westen ACHTZIG Kilogramm Fleisch in einem Jahr. Über anderthalb Kilo pro Woche. No kidding. Ökologisch ist das der reine Wahnsinn. Die desaströse Energiebilanz der Ernährung durch tierische Produkte ist bekannt: Für eine Kalorie braucht man beim Huhn das Vierfache an Energieinput, der Faktor bei Schweinen und Milch liegt bei 14; Eier: 39; Rindfleisch: je nach Futtermittel 20 bis 40.

Das Interesse am nicht-nachhaltigen ökologischen Fußabdruck des Fleischkonsums und an den Lebens- und Sterbensbedingungen der Lebewesen, die da konsumiert werden, scheint freilich überaus gering, wie überhaupt die durchschnittliche Westlerin eher nicht wissen will, woher ihre Nahrung kommt. (Das gilt meist auch für die Kleidung und die Materialien, aus denen sich ihr Smartphone zusammensetzt.) Man kann daher mit Autoren wie Brand, Wissen und McMichael treffend von food from nowhere sprechen – Nahrung von nirgendwo. Dieses Nirgendwo meint nicht nur die Herkunft im engeren Sinne, sondern auch die scheinbar unsichtbaren sozialen und ökologischen Verwerfungen, die mit der Produktion von Nahrung entstehen. Dass Schlachthöfe auf der ganzen Welt Orte von nur begrenzter Zugänglichkeit und Transparenz sind, hat gewiss nicht nur hygienische Gründe… Die durchschnittliche Fleischesserin will gar nicht wissen, wie die von ihr verzehrten Tiere leben und sterben. Diese Unsichtbarkeit und Unsichtbarmachung sind wichtiger Teil der westlichen Lebensweise.

Wie angedeutet: Selten ist die Macht der Verkennung in modernen Gesellschaften so deutlich wie beim Thema Tiernutzung. Nichts verdrängen moderne Gesellschaften bekanntlich so wie den Tod. Vor allem den Tod des Menschen, der seine eigene, Endlich- und Vergänglichkeit lieber nicht zur Kenntnis nimmt – und vielleicht deswegen bisweilen so lebt, als gäbe es kein Morgen – wird verdrängt. Moderne Gesellschaften sind so eingerichtet, dass Tod, Verfall und Krankheit möglichst aus dem Blickfeld ihrer Mitglieder gehalten werden. Für Kranke gibt es Krankenhäuser, für Alte gibt es Altenheime. Das hat natürlich sehr viel Gutes – aber das nur als Ausdruck funktionaler Differenzierung zu sehen, wäre naiv. Nein: Alten- und Pflegeheime zumal haben auch den Zweck, das Phänomen des Alt- und Krankseins nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen.

Diese Form der Verkennung ist auch für den Status von Tieren zentral. Besonders krass kommt das wohl in der Werbung für Tierprodukte zum Ausdruck, wenn wir von gezeichneten oder computeranimierten und fröhlich lächelnden Schweinen, Hühnern oder Kühen zum Verzehr von Fleisch- oder Milchprodukten animiert werden sollen. Man darf sich wundern, wie wenig diese Abstrusitäten je thematisiert werden. Werbung – die sich ja wesentlich auch an Kinder richtet („Käpt’n Iglo“) – suggeriert faktisch, es würde den Tieren Spaß machen, von uns getötet und aufgegessen zu werden. Das Gegenteil dürfte aber der Fall sein. In der Sprache einer an dieser Stelle bemerkenswert offenen Managerin einer in Österreich weltberühmten Bio-Marke: „Schlachten ist für alle Tiere der unangenehme Teil.“ All das schreit nach fundierter Kritik. To be continued.