Prokrastination!

Muss man, wenn man von Politik spricht, von Scheinpolitik reden? Von Politiksimulation? Jean Baudrillards Denken drängt sich auf, aber vielleicht ist das, was wir sehen, gar nicht so eng mit Zeichen, Symbolen und Simulakren verwandt wie mit dem, was Francis Alÿs Politics of Rehearsal nennt. Vor einigen Jahren gab es eine atemberaubende Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art (und in London und Brüssel) mit Alÿs’ Werken unter dem Titel A Story of Deception. Unter anderem konnte man dort den Film Politics of Rehearsal bewundern, eine Mischung aus Theorietextlesung, Theater und Videoperformance. Man sieht unter anderem, wie ein Striptease geübt wird. Nicht den Striptease selbst – nur die Probe. Politics of Rehearsal heißt Politik der Probe – eine Politik, die sozusagen nie zum Vollzug kommt. Oder, wie es im Katalog zur Story of Deception heißt: „Der Film ist die Probe einer Probe. (…) Die Arbeit argumentiert unter anderem damit, dass der Begriff ‚Entwicklung’ als eine Art politischer Pornografie funktioniert: Wir sind gefesselt von dem Versprechen, dass es Befriedigung gibt, was uns gerade deshalb erregt, weil sie uns immer wieder verwehrt wird.“

Besser kann man es nicht sagen. Aber was genau sagt uns das? Dass es eine Art von Diskurs gibt, der immer verspricht und ankündigt und präsentiert, aber sozusagen nie zum Vollzug kommt. Einen Diskurs, der dauernd aufschiebt. Prokrastination. Zaudern. Warten. Eine Politik des Aufschubs, könnte man sagen. „Politik des Aufschubs“ bezeichnet, einfach gesagt, zwei sich gegenüberstehende Positionen. Politikaufschub ist schlecht, wenn er Probleme verschleppt, die dadurch schlimmer werden. Darum geht es hier. Und: Politikaufschub kann gut sein, wenn er mit Reflexion, Entschleunigung und Qualität verbunden ist. Zum Beispiel, wenn es um die „Nachhaltigkeit“ geht. Politkaufschub kann aber gerade bei diesem Thema buchstäblich fatale Folgen haben.

Die „Nachhaltigkeit“ ist ja heute überall. Vielleicht macht es dieses von Beliebigkeit, Bullshit-Bingo und Betroffenheitsrhetorik geprägte Feld besonders leicht, ordentlich zu prokrastinieren. Aufschub heißt unter anderem, dass man etwas, das fällig ist, später zu tun sich vornimmt. Man verspricht, die fällige Miete übernächste Woche zu zahlen. Man schwört, die Prüfungsvorbereitungen gleich morgen zu beginnen, diesmal wirklich. Manchmal ist die Verschiebung nur eine Verschiebung, der Aufschub nur Aufschub. Manchmal aber nicht. Dann ist aufgeschoben eben doch aufgehoben.

Schauen wir genauer hin und nehmen wir folgende Definition von Prokrastination, die von niemandem geringeren stammt als von Max Goldt, der sich in seinem schönen Buch QQ ausführlich mit Prokrastination befasst hat: „Der Begriff bezeichnet ein nicht zeitmangelbedingtes, aber um so qualvolleres Aufschieben dringlicher Arbeiten in Verbindung mit manischer Selbstablenkung, und zwar unter Inkaufnahme absehbarer und gewichtiger Nachteile“. Es ist offensichtlich, dass hier der einzelne Mensch angesprochen wird. Aber es ist leicht, diese Begriffsbestimmung gewinnbringend auf politische Prozesse zu übertragen: Prokrastination ist eindeutig ein Begriff, der nicht nur auf die einzelne Aufschieberin passt, sondern auch auf Phänomene des systemischen (oder systematischen?) Aufschubs.

Das zeigt sich auch, wenn man mit Max Goldt „den typischen Tag eines Prokrastinierers“ betrachtet: „Der Mann, dieser arme Mann, der so dringend eine Schreibarbeit erledigen müßte, dazu aber nicht in der Lage ist, weil er Angst hat, er könnte im Verlauf der Arbeit an einen Punkt kommen, an dem er nicht weiterweiß, oder an eine Stelle, an der ihm klar wird, daß er auf dem falschen Weg ist, weswegen er gar nicht erst anfängt, sich auf einen Weg zu machen, dieser arme, arme Mann beginnt nun, sämtliche Gläser, Teller, Pfannen, Töpfe und so weiter aus seinen umfänglichen Küchenschränken herauszuholen, um die Abstellböden in den Schränken mit feuchtwarmen Tüchern abzuwischen.“

Hat das etwas mit den armen, armen Akteuren des politischen Prozesses zu tun? Fangen auch sie gar nicht erst an, sich auf den Weg zu machen, weil sie Angst vor einem Punkt haben, an dem sie nicht weiterwissen oder merken, dass sie auf dem falschen Weg sind? Ganz sicher liegt hier nicht das einzige Aufschubmotiv, dennoch: Fehlt Entschlossenheit aus Furcht davor, etwas falsch zu machen? Wenn man sich die Machos und Machoinnen der Weltpolitik so anschaut, erscheint das als abwegiger Gedanke. Wirklich? Oder richten auch diese Männer und Frauen ihre Aufmerksamkeit aufs feuchtwarme Küchenschränkeauswischen, genauer: auf Felder, die sichtbare Erfolge versprechen, ohne die eigentlichen Probleme zu beeinflussen? Gegen symbolische Politik ist ja grundsätzlich überhaupt nichts einzuwenden. Aber mit Blick auf das aktuelle Verhältnis von Problemlagen und Problembearbeitungen kann man ohne viel bösen Willen eine Schräglage feststellen, die möglicherweise damit zu tun hat, dass wir Zeuge einer Politik des Aufschubs werden, die zu wenig auf die Reihe bekommt, weil sie zu sehr mit Probe, Zaudern und funktionalen Äquivalenten zum Küchenschränkeauswischen beschäftigt ist.

(Überarbeitete Fassung eines Textes, der erstmals in Irgendwas ist immer erschienen ist.)