Wirtschaftsordnung und Begriffschaos

Wirtschaftsordnung und Begriffschaos

Ordnung? Nein, hier geht es nicht um die Liebe zur Ordnung im Sinne von Ordentlichkeit und Auf­ge­räumtheit. Diese Liebe insbesondere der Deutschen, für die ja die Ord­nung oft das halbe Leben ist, macht übrigens auch vor der Umwelt nicht halt: Umfragen haben angeblich ergeben, dass immerhin ein Drittel der Deutschen findet, ein Wald solle ordentlich aussehen. Wie gesagt: Darum soll es hier nicht gehen. Worum es gehen soll, ist allerdings zumindest von der Grundbegriff­lichkeit her nicht weniger „typisch deutsch“. Ord­nung im Sinne von Ordnungspolitik ist nämlich etwas, über das man in Deutschland (wenn auch leider immer weniger) etwas lernen kann, wenn man Volkswirtschaftslehre studiert. In englischsprachigen Textbüchern wird man das Thema freilich nicht finden – denn es gibt dieses Thema dort (fast) nicht. Das ist bedauerlich, denn Ordnungspolitik ist etwas, dass man zur Verbesserung der Welt gut gebrauchen könnte. Die Vorstellung, dass der Markt zwar ein effizi­entes Allokationsinstrument ist, dafür aber ein­eindeutig einen staatlich gesetzten Rahmen – also eine Ordnung, die der Markt selbst nicht hervorbringen kann – braucht, ist sogar gänzlich un­verzicht­bar, wenn man nicht glaubt, dass der Markt alles regeln kann und soll.

Es gibt aber Menschen, die genau das glauben – und ein Konzept, das genau diesen Glauben befördert. Das Dumme ist: Dieses Konzept trägt exakt den gleichen Namen wie die eben skizzierte Idee einer Ordnungs­politik, die dem Markt einen Rahmen gibt. Sie ahnen es. Genau: Neoliberalismus. Mancher Beitrag zu diesem Thema ist leider theoriegeschichtlich nicht sehr tritt­sicher, weshalb sich der Terminus mittlerweile zu einem etwas aus­gelei­erten Kampfbegriff entwickelt hat. Dass es zwei Vari­anten des Neoliberalismus gibt, ist so gut wie nie Gegenstand von gesell­schaft­li­chen Debatten. Die erste ist der eben erwähnte Ordolibe­ralismus Freiburger Provenienz. Dazugehörige Namen sind zum Bei­spiel: Eucken, Röpke, Müller-Armack – wer kennt sie?

Die zweite Variante ist die, die den zeitgenössischen Diskurs nahezu vollständig dominiert und die vielen Leuten nicht nur als schlecht, son­dern als nachgerade böse gilt. Dieser Neoliberalismus will, wie gesagt, ziemlich das genaue Gegenteil von dem, was die eben erwähnten Herren wollten. Er will, dass sich der Staat weitestgehend vom Markt fernhält und die „unsichtbare Hand“ ungestört ihr Werk tun kann. Dazugehörige Namen: Friedrich August von Hayek und einige Jungs aus Chicago, Friedman und Becker zum Beispiel. Jeder kennt sie – und jeder der ge­nannten Professoren hat einen Nobelpreis bekommen.

Dieser Ruhm und vor allem das Wirken dieser zweiten Fraktion hat dazu geführt, dass Neoliberalismus eigentlich nie mit guter Ordnungs­politik und so gut wie immer mit bösem und ungezügeltem Kapitalismus assoziiert wird. Wenn heute von Neoliberalismus die Rede ist, sind fast immer radikale Markt­orien­tierung, extremer Effizienzglaube und ungezügeltes Konkurrenzdenken gemeint – und nicht ökonomisch, sozial oder ökologisch motivierte Rahmensetzungen durch den Staat. In machen Diskussionen hat man heute den Eindruck, das nahezu alles, was politisch abgelehnt wird, als „neoliberal“ geschimpft wird. Pierre Bourdieu spricht in seinem Buch Gegenfeuer von der „Invasion“ des Neoliberalismus, die eine „Heim­suchung“ sei. In Sachen Aufmerksamkeit und aktueller Wirksamkeit hat diese Heim­suchung jedenfalls bis auf Weiteres gewonnen.

Der schlechte Ruf dieser Art von Neoliberalismus basiert nicht nur darauf, dass einige „Chicago Boys“ sich mit üblen Diktaturen eingelassen haben oder dass ihre Arbeiten wesentliche Inspiration für den praktisch-politischen Neoliberalismus von Margaret Thatcher und Ronald Reagan waren. Der „böse“ Neoliberalismus steht nicht nur für ein Wirtschaftsprogramm, sondern für eine umfassende Umgestaltung der Gesellschaft. Diesem Neolibe­ralismus geht es um die forcierte Expansion dessen, was als Gegen­stands­bereich des Ökono­mi­schen gilt, oder, poetischer und letztlich tref­fender ausgedrückt, um die „Ausweitung der Kampfzone“ (Michel Hou­elle­becq).

Aber das ist eben nur die eine Bedeutung: marktradikale Unordnung. Neoliberalismus kann aber auch für eine gute Ordnung stehen. Also: Bevor Sie das nächste Mal einen Mitmenschen als „neoliberal“ beschimpfen, denken Sie dran, dass dieses Wörtchen einen komplizierten Bedeutungskontext hat und deshalb als Kampfbegriff weniger geeignet ist als das bisweilen den Anschein hat.

(Überarbeitete Fassung eines Textes, der erstmals in Öko-Populismus erschienen ist.)