Mitte der Zeit (1/5)
„Ist die Lust nicht das, was stets ungedacht im Zentrum des Denkens bleibt?“
(Michel Foucault, 1966)
Dies ist eine Reise in die Vergangenheit. Der Klassiker aller Texte über Zeitreisen ist bekanntlich H.G. Wells‘ Zeitmaschine. Die Verfilmung dieses Buches ist für unser Thema, nun: bemerkenswert. Der Film wurde 1960 gedreht, mit Rod Taylor in der Hauptrolle. Taylor macht in diesem Film als Zeitreisender auf dem Weg in die ferne Zukunft drei Zwischenstopps. 1917 – klar, Erster Weltkrieg. 1940 – auch klar, Zweiter Weltkrieg. Der dritte Zwischenstopp hat wohl mit der Angst vor dem Atomkrieg zu tun und heißt: 1966!
Das öffentliche Interesse an Geschichte funktioniert heute wesentlich über Jahrestage. In diesem Sinne liegt es nahe, 2016 einen genauen Blick auf 1966 zu werfen. Wir können die Opfer des Vietnamkrieges und der chinesischen Kulturrevolution betrauern – aber Jubeln können wir auch: über waghalsige Künstler, spektakulär kluge Texte, filmische Meisterstücke und nicht zuletzt über epochale musikalische Kreativleistungen. Wenn 1926 – mit einem Buchtitel von Hans Ulrich Gumbrecht – ein Jahr am Rand der Zeit war, dann steht 1966 in der Mitte. Und doch ist es unterschätzt – was ohne Zweifel mit der Überschätzung von 1968 zusammenhängt.
Am 19. April 1966 läuft erstmals eine Frau den Boston Marathon. Und seit dem 30. Juli 1966 ist Wembley das allgemeinverständliche Schlagwort, wenn es um strittige Entscheidungen geht. Darauf, dass an dieser Angelegenheit Deutschland und England und ein sowjetischer Linien- und ein Schiedsrichter aus der Schweiz beteiligt waren, mag sich jeder selbst seinen Reim machen. Viel wichtiger ist die Beobachtung, dass sogar der Sport 1966 Sprünge macht, die gewiss nicht jedes Jahr vollzogen werden. Wichtiger – und nachhaltiger: Das Jahr strotzt vor spektakulären Denk- und Musikereignissen. Das gilt für einige der sechziger Jahre, aber auch hier ist 1966 erstes unter gleichen. Frank Zappas allererstes Album erscheint, Creams Debut Fresh Cream ebenfalls, Dylans Doppel-LP Blonde on Blonde und Face to Face von den Kinks kommen heraus, die Who legen A quick one vor, die Doors nehmen ihren Erstling The Doors auf. Und, wenn Sie’s leichter und langsamer mögen: Simon & Garfunkel, The Mamas and the Papas, The Lovin‘ Spoonful…
Mit Ronald Reagan wird ein ehemaliger Kleinschauspieler und späterer Großkommunikator zum Gouverneur von Kalifornien gewählt. Seine politische Karriere sollte ihn später bis ins Oval Office bringen – wo er als amerikanischer Präsident einen Politikmodus begann, der uns heute noch in den Knochen steckt. Bahnbrechende Texte erscheinen: von Theodor Adorno und Hans Blumenberg, Jean Amery und Jaques Lacan, Michel Foucault und Mary Douglas. Und auch auf der Bühne tut sich einiges, wie man eindrücklich an der Premiere von Peter Handkes Publikumsbeschimpfung besichtigen kann. Die erregten Reaktionen der Beschimpften zeigen, dass man sich 1966 über Sachen aufregen konnte, die einem heute nicht einmal auffallen würden. Ähnliches gilt wohl für die Rezeption von Truman Capotes In Cold Blood, dessen Gewalttätigkeit und Stil dazu beigetragen haben, das schöne Wort von der Pornoviolence in die Welt zu bringen. Aber es sind nicht (nur) die einzelnen Großtaten, die 1966 so bemerkens- und betrachtenswert machen. Neunzehnhundertsechsundsechzig ist ein Gesamtkunstwerk. Schade, dass wir keine Zeitmaschine haben.