Krieg, Keynes und unsere (Enkel-)Kinder

Es gibt in diesen Tagen sicher ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, was das Wort „Zeitenwende“ wohl konkret bedeutet. Aber dass der Begriff angemessen ist, scheint klar. Und wohl auch, dass er für mehr steht als für Rüstungsbudgets und Versorgungsengpässe. Die Sache ist viel grundsätzlicher. Unsere Lebensweise ist in Frage gestellt.

Nun – das ist schon seit längerer Zeit der Fall. Zumal für Leute, die sich mit Nachhaltigkeit, Klimaerhitzung und Transformationsfragen befassen, steht schon seit Jahren fest: Die „imperiale Lebensweise“ (Ulrich Brand / Markus Wissen) ist weder ethisch noch sozial noch ökologisch zukunftsfähig. Vielen dämmert angesichts des Krieges und seiner Folgen, dass wir auch in ökonomischer Hinsicht nicht-nachhaltig produzieren, konsumieren, leben…

Diese Frag-Würdigkeit unserer Art zu leben gilt eben nicht nur langfristig, sondern hier und heute. Und ganz sicher ist, dass Hinterfragen, Überdenken und Verändern keine Zukunftsthemen sind, sondern Gegenwartsaufgaben. Und das ist kompliziert. Wie kompliziert, zeigt die aktuelle Debatte um die Wirksamkeit und die Wirkungen eines Verzichts auf fossile Energieträger aus Russland. Die Wirtschaftswissenschaft streitet sich darüber. Bundeskanzler Scholz macht Äußerungen, die eine bedrückende Geringschätzung wissenschaftlicher Expertise erkennen lassen, und ausgerechnet ein grüner Wirtschaftsminister warnt vor den Folgen eines Energieembargos für das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts.

Es wäre falsch, angesichts der durch den schrecklichen Krieg ausgelösten kurzfristigen Notwendigkeiten langfristige Ziele wie Nachhaltigkeit und Klimaschutz aus dem Blick zu verlieren. Bekanntlich wird diskutiert, dass ein rascher Verzicht auf fossile Energieträger aus Russland kurzfristig sehr (sehr!) teuer sein würde – aber auf lange Sicht trotzdem notwendig sein könnte. Das Spannungsfeld zwischen kurzfristigen Nachteilen und langfristigen Vorteilen kennt man aus der Klimapolitik: Es gilt in Fachkreisen als unstrittig, dass der Klimawandel umso teurer wird, je länger mit wirksamen Maßnahmen gewartet wird. Verzögerter Klimaschutz heißt: unnötig teurer Klimaschutz.

John Maynard Keynes, einer der größten Ökonomen aller Zeiten, wird oft mit dem Satz zitiert: „Langfristig sind wir alle tot.“ Auch auf diesen Satz trifft Johannes Raus Bonmot zu, dass man nur Zitaten trauen soll, die man selbst aus dem Zusammenhang gerissen hat. Jedenfalls sollte man Keynes nicht in dem Sinne verstehen, dass die langfristige Zukunft irrelevant sei. Wenige Ökonomen haben derart lesenswerte Zukunftsvisionen formuliert wie Keynes mit seinem Aufsatz Economic Possibilities for our Grandchildren. Um diese Enkelkinder geht es bekanntlich auch bei den Diskussionen über Klima, Artenschutz und Zukunftsfähigkeit. Nachhaltigkeit kann man, wie ein kluger Mann einmal vorgeschlagen hat, mit „Enkeltauglichkeit“ übersetzen.

An unsere Enkelinnen und Enkel sollte man auch denken, wenn es um die Debatte um den sofortigen Verzicht auf russische Energieträger geht. Gewiss: Man muss die womöglich höchst dramatischen makroökonomischen Folgen eines Embargos für Gas, Öl und Kohle aus Russland bedenken. Wirkungslose Symbolpolitik, die dem Westen mehr schadet als Russland, wird niemand wollen. Es geht um Abwägung. Aber muss dabei nicht auch die Gefahr bedacht werden, dass hier eine Unterlassung begangen wird, die uns, unseren Kindern und unseren Enkelkindern große Schande bringen wird? Wenn die realistische Chance besteht, mit einem Energieembargo den Krieg zu verkürzen und den russischen Angriff auf die Ukraine zu beenden – welchen Stellenwert haben dann (kurzfristige) ökonomische Konsequenzen?

Mir wird schlecht bei dem Gedanken, dass wir zu wenig tun, weil uns „Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft“ (Wolodymyr Selenskyj) wichtiger ist als der Frieden. Wenn der Begriff „Zeitenwende“ nicht zum Schandmal der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsländer werden soll, muss uns die Verteidigung von Freiheit und Demokratie sehr (sehr!) viel wert sein. Das heißt auch: Es ist sicherzustellen, dass die sozialen und wirtschaftlichen Folgen eines Energieembargos nicht ungebremst die Schwächsten treffen.