Ökonomie der Großzügigkeit: Jenseits von Technikeuphorie und Ökomoralismus

Über die Großzügigkeit der Nachhaltigkeit und die Nachhaltigkeit der Großzügigkeit. Einige Gedanken aus meinem neuen Buch.

Nachhaltige Entwicklung ist heute ein weitgehend akzeptiertes gesellschaftliches Ziel. Soll dieses Leitbild Wirklichkeit werden, sind westliche Gesellschaften gezwungen, sich intensiv mit der Reduktion ihres Umweltverbrauchs zu befassen und daraus wirkungsvolle Konsequenzen zu ziehen. Eine zentrale Herausforderung und Schwierigkeit besteht heute darin, ökologische Zukunftsfähigkeit zu erreichen, ohne schwerwiegende soziale und wirtschaftliche Verwerfungen zu riskieren. Diese komplexe Aufgabe wird in der Debatte über Nachhaltigkeit gerne als „große Transformation“ bezeichnet. Zu diesem Wandel ist die Großzügigkeit als plausibler Mittelweg zwischen Verzicht und Verschwendung ein unverzichtbarer Beitrag.

Zugespitzt stehen sich im Ringen um Nachhaltigkeit technikeuphorische und kulturskeptische Positionen gegenüber. Hier die Mehrheit derjenigen, die auf Technik setzt und darauf hofft, dass die Entkopplung von Wohlstandsproduktion und Umweltverbrauch ein „Weiter so“ der gesellschaftlichen Entwicklung ermöglichen, insbesondere eine konsumintensive Lebensweise. Und dort die Minderheit derjenigen, die die Wurzel nahezu allen Übels in Überkonsum und Verschwendung sehen. Die Mehrheitsposition, die sich in Politik und Wirtschaft größter Beliebtheit erfreut, setzt bekanntlich auf Innovation, auf technischen Fortschritt und auf die Steigerung von Produktivität und Effizienz.

Bei genauem Hinsehen erweist sich die Dominanz der Effizienzidee als gefährlicher Irrweg, denn: Ihr wird zu viel zugetraut. Es ist nämlich nicht zu sehen, wie technischer Fortschritt auf sehr lange Frist dazu führen kann, Wohlstandsproduktion und Umweltverbrauch zu entkoppeln. Darüber hinaus ist sehr grundsätzlich zu fragen, ob das Leitbild der Effizienz, das mittlerweile so viele Bereiche der Gesellschaft dominiert, überhaupt noch angemessen ist. Denn sie läuft stets auf ein Mehr hinaus: Die Orientierung an Produktivität und Effizienz ist eine Orientierung an einem Leitbild der Steigerung, der Expansion, der Ausweitung. In einer endlichen Welt wird die hier waltende Dynamik zum geradezu existenziellen Problem.

Eine mögliche Reaktion auf diese Problematik besteht darin, den Imperativen der Steigerung, Expansion und Ausweitung die Forderung nach Reduktion, Schrumpfung und Beschränkung entgegenzusetzen: Verzicht, so die Überzeugung vieler Nachhaltigkeitsbewegter, ist unverzichtbar, wenn eine zukunftsfähige Entwicklung möglich werden soll. Mit Blick auf diese Position ist die Prominenz interessant, die „Verzicht“ im Zuge von Corona-Krise und Ukraine-Krieg erlangt hat. Verzicht ist heute nicht mehr nur das Leitbild von konsumkritischen Nachhaltigkeitsengagierten, sondern ein zentraler und viel diskutierter gesellschaftlicher Begriff. Im Angesicht von Krieg, Gasknappheit und Inflationsängsten ist plötzlich überall von Verzicht als individuelle und kollektive Verhaltensoption die Rede. Selbst Politiker sprechen heute über notwendige Einschränkungen und absehbare Wohlstandseinbußen.

Man darf beklagen, dass diese Konjunktur auf Kosten der begrifflichen Genauigkeit gegangen ist. In diesem Sinne grenzt Ralf Konersmann der Neuen Zürcher Zeitung den Verzicht scharf vom Begriff der Mäßigung ab. „Der Verzicht“, schreibt er, „ist das indifferente Weniger, dem in seiner Pauschalität der Sinn fehlt für die Situationen, in denen es gefordert ist. Weit subtiler verfährt die Mässigung. Der Grundsatz der Mässigung betrifft den Einzelfall und bedarf deshalb, neben der Erfahrung, der Einsicht und sogar der Zustimmung der unmittelbar Betroffenen.“ Mäßigung als Prozess der Abwägung ist also elaborierter als der Verzicht, der nur auf Reduktion abzielt.

Damit sind wir beim Leitbild der Großzügigkeit und seiner Anwendung: Sie zielt nicht lediglich auf Verzicht, Reduktion und Beschränkung ab, sondern auf ein rechtes Maß, beispielsweise bei der Nutzung der natürlichen Umwelt. Das Plädoyer für Großzügigkeit basiert also einerseits auf dem Scheitern des Effizienzparadigmas, andererseits aber auch auf der Unzulänglichkeit vorliegender Strategien zu einem kulturellen Weg in die Nachhaltigkeit. Ein plausibler Umgang mit der Nachhaltigkeitsproblematik muss stets beides bedenken: hier die Konjunktur eines immer interpretationsbedürftigen Verzichtsbegriffs, der weit über den öko-politischen Kontext hinausreicht – und dort der kaum gebrochene Wille zu Konsum und Verschwendung, der sich oft nicht einschränken lassen will, sondern geradezu als unverzichtbarer Bestandteil von Freiheit und gutem Leben gesehen wird.

An der hier skizzierten Spannung lässt sich festmachen, worauf ein zeitgemäßer Begriff der Großzügigkeit abstellt: auf das rechte Maß und die Mitte zwischen Verzicht und Verschwendung. Eine plausible und zukunftsfähige Umgestaltung nicht-nachhaltiger Strukturen und Prozesse muss in irgendeiner Form die Reduktion von Verbräuchen organisieren – sogar die drastische Reduktion. Aber eine Alternative auf Augenhöhe mit den bestehenden Verhältnissen kann nur entstehen, wenn auch Verschwendung, Ausschweifung und Exzess ihren Platz haben. Dass nicht sehen zu wollen, gehört zu den großen Schwächen des wachstumskritischen Nachhaltigkeitsdiskurses.

Das Plädoyer für Großzügigkeit geht also nicht in die Falle eines innovationseuphorischen Technikoptimismus, basiert aber auch nicht auf einer platten Konsumkritik, die nur auf Verzicht setzt und nicht sehen will, dass zu einem guten Leben auch Überschreitung und Verschwendung gehören. Das impliziert weder eine völlige Abstinenz jeglicher Nutzung natürlicher Ressourcen noch ein naiv-fundamentalistisches Verständnis von Naturschutz. Großzügigkeit bedeutet also nicht, kein Holz mehr zu schlagen, keine Erze mehr abzubauen und keine Flächen mehr zu verbrauchen. Es ist unübersehbar, dass Eingriffe in die Natur vehement zurückgefahren werden müssen, wenn eine nachhaltige Entwicklung ernsthaft angestrebt wird. Aber auch in einer nachhaltigen Zukunft wird es Automobile, Flugzeuge, Motorsägen, Bagger und Rohstoffbörsen geben.

Denn: Großzügigkeit bedeutet keinen Stillstand. Das Gegenteil ist der Fall – sie ist geradezu Voraussetzung dafür, dass es gut weitergehen kann und auch kommende Generationen die Natur für ihre Zwecke nutzen können und es gleichzeitig schaffen, im selben Geiste gewisse Teile dieser Natur ungenutzt zu lassen. Es geht nicht um den kompletten Verzicht auf die Nutzung von Möglichkeiten, aber um das bewusste Unterschreiten dieser Möglichkeiten. Großzügigkeit verbietet keinesfalls, die Natur für ökonomische, soziale und kulturelle Zwecke zu nutzen. Sie verbietet es aber, dies gleichsam bis zur Neige zu tun. Es geht, wenn man so will, um die Nicht-Nutzung von Ressourcen, damit deren Erhaltung gesichert das Überschreiten ökologischer Grenzen verhindert werden kann.

Für eine solche Strategie der Zukunftssicherung gibt es bereits ermutigende Ansatzpunkte, zum Beispiel auf dem Feld der Artenvielfalt oder beim Tierschutz. Eine großzügige Nachhaltigkeit, die Spiel-Räume schafft, Sicherheitsabstände etabliert und die Schonung der Natur in die gesellschaftliche und ökonomische Praxis integriert, ist nicht nur notwendig, sondern auch vorstellbar. Noch mehr zeigt sich die Plausibilität dieses Ansatzes auf einem Politikfeld, das lange Zeit völlig vom Glauben an Effizienz und Wachstum geprägt war: dem internationalen Handel. Wo seit Jahrzehnten Effizienzorientierung und die Nutzung komparativer Kostenvorteile selbstverständliche Dogmen waren, betonen heute immer mehr politische und wirtschaftliche Akteure die Relevanz von Resilienz, Verantwortung und Sicherheit. Die Corona-Krise, der Krieg in der Ukraine und die für manche Länder gefährliche Abhängigkeit vom chinesischen Markt haben in kurzer Zeit dazu geführt, dass Staaten und Unternehmen verstärkt auf Resilienz und Risikomanagement setzen und dabei ganz bewusst auf Effizienzgewinne verzichten.

Dass hier eine lange etablierte und unhinterfragte Normalität ins Wanken gerät, darf man als Zeichen der Hoffnung nehmen. Denn ein zeitgemäßer, zukunftsfähiger Fortschritt kann nur dann entstehen, wenn etablierte Selbstverständlichkeiten und Normalitäten in Frage gestellt und verändert werden. Dass gilt in Bereichen wie Mobilität, Wohnen und Ernährung – aber eben auch für lange Zeit unangefochtene wirtschaftliche Leitbilder wie Effizienz und Wachstum. Großzügigkeit ist nicht „die“ Lösung für diesen komplexen Problemzusammenhang. Aber sie ist ein wirkungsvoller Ansatz, mit dem hier und heute begonnen werden kann. Sie erfordert weder den Umsturz des Kapitalismus noch die Schaffung eines neuen Menschen. Sie ist vielmehr ein inspirierender Ansatzpunkt für konkrete Veränderungen in Wirtschaft, Politik und Kultur, der den Möglichkeitssinn für neue Lösungen stärkt, ohne dabei soziologisch naiv, psychologisch unplausibel oder ökonomisch destruktiv zu sein. Dass solche Veränderungen notwendig sind und es ein bequemes „Weiter so“ nicht geben kann, liegt angesichts unserer Lage auf der Hand.