Klein-Fritzchen, Kapitalismus und Kontingenz

Klein-Fritzchen, Kapitalismus und Kontingenz

Aus gegebenem Anlass wieder einmal etwas zu einem Dauerbrenner. Milo Rau hat sich im Standard über den schlechten Zustand der Welt beklagt und bemerkenswerte Vorschläge gemacht. Ich habe das bemerkt und im Standard seinen Kommentar kommentiert. Warum ich seine Aufforderung, Aldi und Audi zu stürmen, nicht als schlechten Witz genommen habe? Weil der Theatermann schon vor Jahren (in Futurzwei) verkündet hat: „Für die Europäer kann es ja nur schlechter werden.“ Es geht also, anders kann ich das nicht deuten, nur noch um Desastermanagement. Man müsse so Rau, „die näher kommende Katastrophe verlangsamen und gerechter organisieren.“

Mir ist diese Denkungsart zu pessimistisch, indem sie den Kapitalismus als monolithischen und unbeweglichen Block darstellt und die Kontingenz der Lage ganz und gar ausblendet. Kontingenz ist ein schrecklich sperriger Begriff – aber sehr hilfreich, wenn man über die Zukunft nachdenkt. Kontingent ist alles, was nicht unmöglich, aber auch nicht notwendig ist. Diese Kontingenz markiert den Zukunftsraum der Hoff­nung. Denn: Hoffen kann man, wenn man’s genau nimmt, nur auf Dinge, die offen sind – also weder fest determiniert noch gänzlich ausgeschlossen. Beispiele: Man hofft nicht darauf, dass morgen die Sonne aufgehen wird – denn nach allem, was wir wissen, wird dies noch sehr, sehr lange der Fall sein. Und man hofft nicht darauf, dass Menschen sich von Licht ernähren können – denn nach allem, was wir wissen, ist das gänzlich ausgeschlossen. Zwischen derlei Notwendigkeit und Unmöglichkeiten ist der Raum, in dem wir hoffen können.

Derlei Gedankenübungen sind mühsamer als der naive Glaube (oder das gefühlte Wissen), man müsse nur den Kapitalismus „abschaffen“, damit alles gut werde. Manches Charakteristikum des Kapitalismus ist ohne Zweifel hoch problematisch – wenn man sich die Nicht-Nachhaltigkeit unserer Wirtschafts- und Lebensweise anschaut, wird das sehr schnell deutlich. Daraus folgt aber weder, dass der Kapitalismus (allein) „schuld“ an der Nicht-Nachhaltigkeit ist – noch, dass seine „Abschaffung“ ein plausibler Vortrag zur Problemlösung ist.

Dennoch: Kapitalismuskritik ist nicht nur dringend notwendig, sondern auch beliebt – sie verspricht aufmerksamkeitsökonomischen Gewinn. Blöd nur, wenn man über Wirtschaft redet, ohne von wirtschaftlichen Zusammenhängen den Dunst eines Schimmers eines Hauches einer vagen Ahnung zu haben. Natürlich ist die Wirtschaft zu wichtig, um sie den Ökonominnen und Ökonomen zu überlassen. Aber ein Grundwissen kann auch nicht schaden. Sonst wird’s leicht peinlich und gratismutig.

Dazu eine – Vorsicht: sehr traurige – Geschichte, die ich hier schon mal erzählt habe. Hans Martin Schleyer hat, wenn man der Frankfurter Allgemeinen Zeitung glauben darf, während seiner Geiselnahme durch die Terroristinnen der „Rote Armee Fraktion“ mit diesen Terroristinnen politische Diskussionen geführt. Die Wortspenden seiner späte­ren Mör­derinnen waren dabei anscheinend dermaßen naiv, dass Schleyer irgendwann ausgerufen haben soll: „Ihr dürft euch das nicht so vorstellen, wie Klein-Fritzchen sich den Kapitalismus vorstellt!“ Ja, man sollte keine naiven Vorstellungen vom Kapitalismus haben, wenn man ihn ver­ändern oder gar „abschaffen“ will. Auch wenn man weniger revolutionär veranlagt und an einer demokratischen Transformation des Kapitalismus interessiert ist, hilft eine gewisse Nicht-Naivität.

Dann läuft beim Nachdenken über Alternativen das Bewusstsein mit, dass Dinge nicht einfach, eindeutig und leicht veränderbar sind, sondern eben kompliziert, vieldeutig und bisweilen verdammt schwer zu ändern. Womit dann schnell in den Blick gerät, dass es schwerwiegende Unterschiede gibt zwischen Theorie und Praxis, zwischen Schreibtisch und Geschichte, zwischen hochfliegenden Überlegungen und eher schwerfälligen Dingen. Um mit Friedrich Schiller einen anderen Theatermann zu zitieren: „Leicht beieinander wohnen die Gedanken. Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.“ So ist es.