Gefühltes Wissen, riskantes Denken

Gefühltes Wissen, riskantes Denken

Einer der wichtigsten Quellen dafür, dass man mit sozial erwünschtem Meinen heute oft besser durchkommt als mit faktenfestem Wissen, ist das Übel der Korrektheit, über das hier noch sehr viel zu sprechen sein wird. Wenn man hört, was an Alltagstheorien zur Verschwen­dung von Lebensmitteln oder über die Konsequenzen der „Spekulation“ mit Agrargütern im Umlauf ist, kann man sich oft nur wundern. Und wenn es um Nachhaltigkeit geht, ist man leicht mal mit Vorstellungen über Theoretiker wie John Stuart Mill oder John Maynard Keynes kon­frontiert, die gelinde gesagt recht wenig mit deren Theorien zu tun haben. Hier gibt’s zu viel Flachgewichse und zu wenig Tiefen­boh­run­gen.

Sich kapitalismuskritisch zu geben, kommt aber nicht so gut, wenn man von wirtschaftlichen Zusammenhängen wenig versteht. Dazu eine Geschichte: Sie hat leider einen denkbar grausamen Aus­gang – instruktiv ist sie trotzdem. Hans Martin Schleyer hat, wenn man der Frankfurter Allgemeinen Zeitung glauben darf, während seiner Gei­selnahme durch die Terroristinnen der „Rote Armee Fraktion“ mit diesen politische Diskussionen geführt. Die Wortspenden seiner späte­ren Mör­derinnen waren dabei anscheinend dermaßen naiv, dass Schleyer irgendwann ausgerufen haben soll: „Ihr dürft euch das nicht so vorstel­len, wie Klein-Fritzchen sich den Kapitalismus vorstellt!“ Ja, man sollte keine naiven Vorstellungen vom Kapitalismus haben, wenn man ihn ver­ändern oder gar „abschaffen“ will. Gegen allzu viel Naivität in dieser Hinsicht ist ökonomische Kompetenz ein gutes Mittel.

Eine wichtige Funktion wissenschaftlichen Wissens wäre es also, Kleinfritzchenglauben abzulösen durch kritisches und – wichtig – kontraintuitives Denken. An richtigem Meinen, gutem Fühlen und politischer Korrektheit orientierte Menschen folgen oft ihrer Intuition. Dagegen helfen zum Beispiel Leute wie Niklas Luhmann. Bei dem ortet Hans Ulrich Gum­brecht ein Höchstmaß an gegenintuitivem Denken. Gumbrecht hat sich von Luhmann inspirieren lassen und sich das Konzept des „riskanten Denkens“ ausgedacht. Dieses Denken, schreibt Gumbrecht 2006 in einem Beitrag für den Merkur, „setzt voraus, daß wir den besonderen sozialen Status unserer geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer (den Status des ‚Elfenbeinturms‘) am besten nutzen, wenn wir versuchen, gegenintuitive Strategien der Weltbetrachtung zu entwickeln, Strategien, deren Anwendung in alltäglichen Kontexten ein gewisses Risiko von Mißerfolg und systematischer Blockierung beinhaltet, während sie andererseits ein positives Potential haben, solange sie uns erlauben, Alternati­ven anzusammeln, die Gesellschaften für Wandel offenhalten.“

Von dieser Art Denke gibt es deutlich zu wenig. Gerade wenn es um Themen wie „Nachhaltigkeit“, „Gemeinwohl“ oder „Globalisiserung“ geht, entwickeln Korrektheit und Wohlfühlstrategien bisweilen eine größere Kraft als Kritikfähigkeit und fundiertes Wissen. In Anleh­nung an Horst Evers, einen erfolgreichen Kabarettisten aus Niedersach­sen (ja, das gibt’s wirklich), könnte man sagen: Gefühltes Wissen ist heute oft wichtiger als gewusstes Wissen. Das ist ein Problem.

(Überarbeitete Fassung eines Textes, der erstmals in Öko-Populismus erschienen ist.)