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Beginnen wir die Reise nach 1966 mit einem Umweg. Auch hier gilt: Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Oder, in diesem Fall vielleicht passender: die Zeitkenntnis.
Ein Problem, mit dem meine Generation als erste in der Geschichte konfrontiert ist und über das ich lange nachgedacht habe und das mit dem Lauf der Zeit und der Unfähigkeit zu tun hat, diesem Lauf den für ein Leben in Würde nötigen Respekt zu erweisen – und damit, dass man, wenn man einmal oben war, nicht wieder hinunter will und wenn man da ist, wieder nach oben will: alternde, alte und zu alte Rockstars. Wenn man sieht, wie der alte, stumpf und matt gewordene Ruhm alternden Menschen wie ein schwerer Stein am Hals zu hängen scheint, kann das einerseits echte Betroffenheit auslösen. Andererseits kann man auch von dieser Traurigkeit etwas lernen. Wenn man will.
Wenn man will, kann man das alles aber auch ganz anders sehen. Man kann Leute wie Bob Dylan für Leuchttürme würdevollen Rockstaralterns halten. Man darf glauben, dass Leute wie Jimmy Hendrix und Amy Winehouse großartig gealtert wären. Und finden, dass Leute wie Bob Geldof und Dieter Bohlen auch als junge Leute nicht cool waren. Man kann empirisch korrekt darauf hinweisen, dass die einzige Alternative zum Altwerden das frühe Sterben ist. Trotzdem:
Die vielzitierten jungen Toten der Popkultur – also diejenigen Sängerinnen, Gitarristen und sonstigen musikbegabten Endzwanziger, die die Dreißig nicht erreicht und mit 27 gestorben sind – haben es in gewisser Hinsicht besser gemacht als viele alternde, alte und zu alte Rockstars: Sie sind in Würde abgetreten, bevor die Zeit ihnen zu nahe treten konnte. Wir erinnern uns gerne an die verrückt-schöne Genialität von Janis Joplin und Kurt Cobain, an die Eleganz und bestürzend brillante Kreativität von Jimmy Hendrix und Jim Morrison, an Brian Jones als Brian Jones und an die wunderbare Amy Winehouse.
Stars, die früh sterben, konservieren. Vor allem sich selber. Aber auch uns: Ich bin mittlerweile über ein Jahrzehnt älter als John Lennon und Elvis Presley, als die gestorben sind. Doch niemals werde ich mir vorstellen können, je wirklich älter als Lennon oder Elvis zu sein: Die beiden werden immer älter sein als ich. Und halten auch mich auf diese Weise jung.
Schön wär’s, wenn das wirklich wirken würde. Tut es aber nicht, denn: Die entwürdigende Wirkung, die alternde, alte und zu alte Rockstars auf uns haben, ist leider viel stärker als das, was John Lennon, Elvis Presley und der Club der 27 für uns tun können. Alternde, alte und zu alte Rockstars erinnern uns an unseren eigenen Verfall. Diese Leute sinken in Sachen Schönheit, Glanz und Attraktivität regelmäßig auf ein Niveau herab, das in ungefähr umgekehrt-proportionalem Verhältnis zum Ruhm früherer Tage zu stehen scheint. Ich meine nicht nur die ganz alten Säcke. Nein, ein Blick auf Leute wie Bono, Bohlen oder Bob Geldorf zeigt, dass man schon ganz schön früh ganz schön peinlich werden kann, wenn man nicht aufpasst. Und diese Leute, sollte man doch meinen, sie passen auf. Und haben das Geld, sich das was kosten zu lassen. Alles ist eitel, das hier aber besonders.
In den 1960er Jahren war das Phänomen des alternden, alten oder zu alte Rockstars gänzlich unbekannt. Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich, dennoch: Man könnte sagen, dass das Gegenteil der Fall war. Was uns heute in seiner ganzen Tragik entgegenblickt, stand vor etwa fünf Jahrzehnten in voller Blüte, Schönheit, Eleganz. Diese Eleganz, die uns heute so verzweifelt fehlt, ist eine Existenzfrage. Wir sollten uns ihrer schillernden Existenz erinnern und bewusst werden, was wir hatten, um sie wieder zu erlangen oder wenigstens in die Nähe der Bedingungen ihrer Möglichkeit zu gelangen. Schon deshalb lohnt es sich, sehr genau das Jahr 1966 anzuschauen und anzuhören.