Mitte der Zeit (2/5)

„Fiktion ist der einzige Ausweg.“
(Hunter S. Thompson, 1966)

Ja, es wäre toll, eine Zeitmaschine zu haben. Moment – wir haben eine Zeitmaschine! Eine, die uns in die sechziger Jahre im Allgemeinen und ins Jahr 1966 im Besonderen beamt (Beamen – ein Wort, das es in dieser Bedeutung erst seit 1966 gibt): die TV-Serie Mad Men, die in der New Yorker Werbewelt spielt und einem gewissen Don Draper und seinen Mitstreitern durch die 1960er Jahre folgt. Der Mega-Erfolg dieser Reihe erklärt sich wesentlich durch den überwältigenden Wiedererkennungseffekt von Vergangenem: Wir sehen die 1960er, vor allem aber sehen wir – uns. Als Berufstätige, als Konsumierende, als Zeitzeugen, als Männer und Frauen.

Draper ist eine zwielichtige Gestalt – um das Mindeste zu sagen. Ist er böse? Nach den Kriterien der 2010er Jahre tut er jedenfalls Dinge, die man(n) nicht tun sollte. Gar nicht. Und doch ist er ein Sympathieträger, zumindest eine Identifikationsfigur. Jedenfalls folgt man gespannt jede seiner Handlungen und will verstehen, was den Mann umtreibt. Vielleicht ist es mit 1966 ganz ähnlich. Man muss nicht alle Kriterien unserer Empfindlichkeits-, Korrektheits- und Empörungskultur richtig finden, um das Jahr irgendwie unsympathisch zu finden: Geschlechterverhältnisse, ethnische Beziehungen, Umweltfragen, Krieg und Gewalt – schön war das alles nicht. 1966 war in Vielem unschön und ungerecht. Aber auch faszinierend. Und eben auch: schön.

Wie der Philosoph Robert Pfaller richtig beobachtet hat: Die 1960er Jahre waren so elegant und so cool, dass wir uns gar nicht mehr einkriegen vor der Sehnsucht danach, es selbst auch so zu haben. Pfaller referiert, wie das auf dem Feld automobiler Nostalgie zum Ausdruck kommt. Nun kann man Autodesign mit gutem Recht für überschätzt und im Anthropozän auch für total überflüssig halten: Aber die Eleganz, der wir heute nachtrauern, hatten die Autos damals – und auch die Mode und überhaupt der Stil, mit dem die Dinge vor sich gingen. Mad Men ist ja auch deshalb so erfolgreich, weil der Serie der Ruf vorausseilt, die Eleganz der 1960er Jahre authentisch zu zeigen und zu feiern. Und in der Tat: Fast jede Einstellung strotzt vor Chic, Charme und Schönheit.

Mad Men bedient Sehnsüchte. Nach Eleganz, Glamour, vielleicht auch nach Einfachheit und Überschaubarkeit. Und gleichzeitig, darauf weisen Linda Beail und Lilly J. Goren 2015 in Mad Men and Politics hin, schockt uns die Lücke zwischen dem, was wir heute erwarten und dem, was damals normal war. Aber man schaut die Serie wohl auch, weil sie klarerweise zeigt, dass damals das Heute gebaut wurde: „Don Draper and his colleagues are inventing our contemporary world, a world of hyper-consumer culture. The show interrogates our own reality, allowing us to ask, how did we get here?” Die Serie zeigt, wie sehr beschleunigter Wandel nicht nur uns überfordert, sondern offenbar schon vor 50 Jahren ein verbreitetes Phänomen war, das sehr aufregend sein konnte, aber auch sehr einschüchternd.

Staffel fünf der Serie spielt im Jahr 1966, deren achte Episode heißt Lady Lazarus. Sie zeigt die Zerrissenheit der Beteiligten zwischen Pflicht und Lust, zwischen Beruf und Berufung, zwischen eingeschlafenem Eheleben und unstillbarem Beischlafwillen. Man sieht in dieser Folge auch die legendäre Szene, in der Don Draper, nachdem er seine Liebste verabschiedet hat, in den sehr, sehr tiefen Schacht eines offensichtlich funktionsunfähigen Fahrstuhls blickt – ein nicht sehr subtiles, aber doch filmisch sehr gut und treffsicher gesetztes Zeichen für den Zustand seines Lebensgefühls.

In Lady Lazarus wird Don Draper ein lächerlicher Popsong vorgespielt, den er irrtümlich (und für ihn überaus peinlich) für ein Lied der Beatles hält. Am Ende dieser Folge drückt Drapers Frau, Megan, ihm das neue Beatles-Album (also Revolver) in die Hand mit dem Hinweis, sich das bitte anzuhören und mit dem letzten Lied zu beginnen. Die junge Megan macht sich Sorgen, weil ihr Mann einfach nicht weiß, was los ist – dieses Lied soll ihm das näherbringen. Er legt die Platte auf und hört es nicht einmal zu Ende, und geht, offenbar genervt (zumindest absolut unbegeistert) von diesem Hörerlebnis. Anhand von Drapers Reaktion auf die Beatles wird uns vorgeführt, dass er den Zug der Zeit verpasst hat und nicht versteht, was um ihn herum geschieht: Tomorrow never knows erreicht unseren Helden einfach nicht.