Was bedeutet „Ausnahmezustand“?

Anfang 2018 ist Ausnahmezustand erschienen. Gleich zu Beginn heißt es dort:

>> Die Welt scheint also aus den Fugen. Freiheit und Wohlstand, Frieden und Zukunftsfähigkeit sind bedroht. Das vorliegende Buch beschreibt diese Situation als Ausnahmezustand. Dieser Begriff kann einen Not­stand ausdrücken, aber auch den Normalzustand einer beschleunigten Moderne – oder er kann für die Hoffnung auf etwas Besseres stehen. Eine solche Wende wird nicht von alleine kommen, sondern erfordert Analyse, Kampf und Glück. Darum geht es hier – und um die zentrale Rolle, die ein merk­würdiges Paradox in dieser Situation spielt: Wir müssen, wenn wir auch in Zukunft in Freiheit, Wohlstand und Frieden leben wollen, unsere Lebens­weise mit allen Mitteln verteidigen – und gleichzeitig eben diese Lebensweise radikal verändern, wenn sie sozial, ökologisch und ethisch ver­tretbar und zukunftsfähig sein soll. Eine gute Zukunft wird extrem un­wahr­scheinlich, wenn diese paradoxe Herausforderung nicht adressiert wird. <<

Hintergrund dieses Zitates waren vor allem Nicht-Nachhaltigkeit, Klimadesaster und Populismus. Heute hat der Begriff „Ausnahmezustand“ einen anderen Geschmack. Aktuell geht es vor allem um den Umgang mit einer Viruserkrankung und den daraus resultierenden Maßnahmen. Was folgt, ist ein (minimalst überarbeiteter) Auszug aus dem Kapitel Anomalie meines Buches Ausnahmezustand. Inhaltlich habe ich nichts verändert. Ich will mit dieser Wiederveröffentlichung nichts insinuieren. Sich den Begriff genau anzuschauen, kann aber sicher nicht schaden.

>> Der erste Satz, das kann man beim Carl Schmitt nachlesen, entscheidet oft über das Schicksal einer Veröffentlichung. Manche erste Sätze wer­den auch legendär. Der erste Satz von Schmitts Politischer Theologie zum Beispiel: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entschei­det.“ Diese viel zitierten Worte legitimieren auch, dass Herr Schmitt hier zu Wort kommt: Wer über den Ausnahmezustand schreibt, kann über ihn nicht schweigen. Mir geht es hier ausdrücklich nicht um die (staats)rechtlichen Feinheiten, moderne Notstandsverfassungen (zum Beispiel im deutschen Grundgesetz) oder den schlimmen politischen Hintergrund von Schmitts Theorie.

„Die Entscheidung über die Ausnahme“, schreibt Schmitt, sei „im eminenten Sinne Entscheidung.“ So ist es, und das gilt auch für die Ge­gen­wart: für die Schande von Guantanamo ebenso wie für den Umgang mit klimabedingten „Naturkatastrophen“ oder Fluchtbewegungen. Spit­zen sich solche Notlagen zu, wird bei Schmitt der Souverän sozusagen erst zum Souverän. Dieser, schreibt er „entscheidet sowohl darüber, ob der extreme Notfall vorliegt, als auch darüber, was geschehen soll, um ihn zu beseitigen. Er steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspen­diert werden kann.“

In einem solchen Fall – dem Ausnahmezustand – tritt das Recht zurück, während der Staat bestehen bleibt. Der „Witz“, der auch von Schmitt be­tont wird, ist die „Reinheit“ und brutale Konkretheit dieser Situation und die Absolutheit der Entscheidung. Der Ausnahmefall, so Schmitt, hat eine „den Kern der Dinge enthüllende Bedeutung“. Künftige (nicht zu­letzt klimabedingte) Not-Lagen könnten dazu führen, dass derlei „absolute“ Entscheidungen gefällt werden (müssen). Allein diese Aussicht sollte uns hoffen lassen, dass Klimapolitik wirksam wird, bevor klimabedingte Katastrophen den „Souverän“ auf den Plan rufen. Das darf man auch als Warnung vor politischen Phantasien verstehen, die auf Chaos und Un­ordnung, Krisenzuspitzung und Aufstände setzen. Bücher wie Der kom­mende Aufstand, die diese Strategie verfolgen, muss man daher nicht nur als Gegenwartskritik, sondern auch als Zukunftswarnung lesen. Die be­kanntlich nicht neue Phantasie, dass ganz viel ganz schnell ganz anders werden möge, hat zu schlimmstem Leid geführt, wenn versucht wurde, sie in die Tat umzusetzen. Wie halb links oder ganz rechts das ist, muss uns hier nicht interessieren. Wichtiger: Der naive Glaube, dass mit einem Male alles besser werden könnte, ist gefährlich. Nils Minkmar hat in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung darauf hingewiesen: Nach allem, was wir wissen, hätten nach dem „Aufstand“ nicht die bis dahin Armen und Entrechteten das Sagen, sondern Männer auf schwarzen Ge­ländewagen. Oder eben, wenn ein verfassungsrechtlicher Ausnahmezu­stand ausgerufen wird, die Männer in Uniform. Bewaffnet wären beide…

Der Ausnahmezustand, so kann man Schmitt lesen, ist im Vergleich zur langweiligen Normalität der weitaus interessantere Fall. Er schreibt: „Gerade eine Philosophie des konkreten Lebens darf sich vor der Aus­nahme und vor dem extremen Falle nicht zurückziehen, sondern muß sich im höchsten Maße für ihn interessieren. Ihr kann die Ausnahme wichtiger sein als die Regel, nicht aus einer romantischen Ironie für das Paradoxe, sondern mit dem ganzen Ernst einer Einsicht, die tiefer geht als die klaren Generalisationen des durchschnittlich sich Wieder­holenden. Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Nor­male beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik.“

Manche halten den Ausnahmezu­stand für den Normalfall der Moderne. Armin Nassehi spricht davon, dass die Eigenlogiken der Moderne „sich jeglichem Souverän ent­ziehen“ und sie „letztlich unregierbar“ sei. Das „durchschnittlich sich Wiederholende“ ist für den Soziologen also die dynamische Unregier­barkeit einer beschleunigten Moderne. Nassehi – hier ganz Luhmann-Musterschüler – betont funktionale Differenzierung und Kontingenz und trifft damit einen wunden Punkt allzu steuerungsoptimistischer Reform­ideen.

Was er freilich unterschätzt: dass der zugespitzte Ausnahmezustand, um den es hier geht und der eben kein Normalfall ist, durchaus einen Souverän im Schmitt’schen Sinne auf den Plan rufen könnte. In der Herausforde­rung, die westliche Wirtschaftsweise in Richtung Zukunftsfähigkeit zu trans­formieren, kann man mit guten Gründen eine Art Testfall für die Demo­kratie sehen. An deren Bewahrung war Schmitt bekanntlich nicht interessiert – das Gegenteil ist der Fall. Das ganz normale Chaos der Moderne, das Nassehi beschreibt, kann in einen undemokratischen Notstand führen, wenn der derzeitige Ausnahmezustand nicht in etwas Bes­seres überführt wird.

Mit Blick auf unsere Gegenwart könnte man vor diesem Hintergrund formulieren: Souverän ist, wer den Ausnahmezustand verhindert. Die Kräfte, die die aktuellen Krisen einzuhegen vermögen und es schaffen, aus dem Bestehenden keinen Notstand werden zu lassen, dürfte man sou­verän nennen. Denn souverän (als Eigenschaftswort) kann heißen (und heißt es im Alltagsgebrauch und auf dem Fußballplatz ja auch), in einer Situation die Übersicht und die Kontrolle zu behalten und sich von Chaos nicht irre machen zu lassen. Wer an Freiheit und Demokratie interessiert ist, kann sich also an den folgenden Souveränitätsbegriff halten: Souverän ist, wer dazu beiträgt, dass der aktuelle Ausnahmezustand nicht in einen das Recht suspendierenden Ausnahmezustand kippt, in dem Männer mit Maschinengewehren bestimmen, wo’s langgeht…

Diese Art von Hoffnung sucht man bei Giorgio Agamben vergebens. Agamben verwendet Schmitt als zentralen Ausgangspunkt für sein Homo-sacer‑Projekt, und der Erfolg des italienischen Philosophen legt ebenfalls nahe, ihn hier zu zitieren: Er hat wesentlich dafür gesorgt, dass Schmitts Begriff des Ausnahmezustands aufmerksamkeitsökonomisch reüssiert hat. Wie gesagt: Eine Art von Hoffnung, wie sie das vorliegende Buch begründen will, findet man bei Agamben nicht. Wer Überschriften wie Das Lager als biopolitisches Paradigma der Moderne in Umlauf bringt, hat die Hoffnung womöglich schon hinter sich. Ein Teil des Homo sacer heißt übrigens – Ausnahmezustand. Dort sieht uns Agamben, vor allem mit Blick auf die Politik der USA (Stichwort Guantanamo), bereits ange­kommen. Im weltweiten Bürgerkrieg, meint er, werde der Ausnahmezu­stand immer mehr zum Paradigma des Regierens. Agamben sieht also eine gefährliche Normalisierung des Ausnahmezustands.

Für unseren Zweck ist das freilich wenig hilfreich. Die düstere Mi­schung, die der Modephilosoph aus Archivarbeit, Biopolitik und anderen Ingredienzien zusammenbraut, trägt trotz der Titelgleichheit nichts Erhel­lendes zur Problemstellung des vorliegenden Buches bei. Ein Aspekt freilich lässt sich mitnehmen – sozusagen die konstruktivistische Seite des Ausnahmezustands: Der Notstand, die Katastrophe, der Ausnahme­fall – sie sind niemals objektiv gegeben, sondern enthalten stets ein Urteil, eine Bewertung. Das verweist auch auf die Gefahr, dass die Behaup­tung großer Not oder der Begriff des Ausnahmezustands politisch instru­mentalisierbar sind.

Genau davor warnt Timothy Snyder in seinem 2017 erschienenen Best­seller Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand. Lektion 17 lautet: „Achte auf gefährliche Wörter“. Begriffe wie Extremismus und Terrorismus dürften, wenn man sich vor Tyrannei schützen wolle, „nur mit größter Vorsicht“ verwendet werden, und: „Sei dir bewusst, welch fatale Bedeutung Begriffe wie Notstand oder Ausnahmezustand haben.“ Die Warnung davor, sich einen Ausnahmezustand einreden zu lassen, for­muliert Snyder mehr als einmal. Und natürlich zitiert auch Snyder Herrn Schmitt, der für ihn der „wohl intelligenteste Nationalsozialist“ ist. Auch Snyder geht es um die Normalisierung des Ausnahmezustands. Wenn der Ausnahmezustand in einen dauerhaften Notstand verwandelt wird, „tau­schen Bürger reale Freiheit für falsche Sicherheit ein“, so Snyder: „Wer dir versichert, Sicherheit sei nur um den Preis der Freiheit zu haben, will dir in der Regel beides verwehren.“ <<