Empathie und Erwartungsmanagement

Ich bin vehement der Ansicht, dass wir aus dem gegenwärtigen Desaster das Beste machen sollten. Viele Leute werden mir da zustimmen. Freilich sollte man nicht übersehen, dass in diesem leicht dahingeschriebenen Satz drei schwere Fragen stecken: Wer sind „wir“? Was ist das gegenwärtige Desaster – also wie interpretieren wir den vireninduzierten Ausnahmezustand? Und was wäre das Beste?

Zur Frage nach dem Wir kann ich auf einen unbedingt lesenswerten Text verweisen, den Judith Kohlenberger im Falter publiziert hat. Sie betont, dass die aktuelle Krise die sozialen Unterschiede eindringlich vor Augen führe. Unter anderem schreibt Sie, dass Empathie und Solidarität in Zeiten von Corona auch bedeuteten, „andere Lebensrealitäten wahrzunehmen und daraus resultierendes Verhalten nicht automatisch abzuwerten. Eigene Privilegien zu reflektieren und die moralische Überlegenheit zurückzufahren.“ Das darf man sich merken. Übrigens auch dann, wenn man die aktuelle Krise interpretiert.

Über die analytischen Schnellschüsse auf diesem Feld habe ich ja hier schon geschrieben. Wenig überraschend gibt es offenbar eine riesige Nachfrage nach Weltinterpretationen. Etwas mehr überraschend ist der unbedingte Wille, diese Nachfrage zu befriedigen. Koste es, was es wolle…. Aber was kostet es? Womöglich kostet es die Gesellschaft eine weitere Erosion des Vertrauens in fachliche Expertise. Neulich wurde ein Romanist und Tänzer im österreichische Fernsehen als „Ökonom“ präsentiert und zum wirtschaftlichen Rettungspaket und zum Thema Helikopter-Geld befragt. No kidding. Das wäre ungefähr so, als wenn man mich zur aktuellen Sicherheitslage befragen würde, weil ich mal einen Kurs in Krav Maga gemacht habe. Nicht gut. Erstaunlich und bedenklich ist auch die Geschwindigkeit, mit der – schon an Beginn einer der schwersten Krisen der Weltgesellschaft –, weitreichende Schlüsse gezogen werden. Natürlich ist es gut, sich jetzt schon fragend und interpretierend mit unserer Lage zu befassen. Weniger gut ist, wenn die schnelle Wortmeldung wichtiger wird als die fragende Reflexion.

Das gilt ähnlich für die Frage, was „das Beste“ wäre, das wir aus dem Desaster machen können. Der Unterschied zwischen Hoffnung und Optimismus ist zu betonen, ebenso die Differenz zwischen Wünschbarkeit und Möglichkeit. Etwas kann mög­lich sein, aber hochgradig unerwünscht – die Auslöschung der Mensch­heit durch Atomwaffen beispielsweise dürfte eine überwältigende Mehr­heit ablehnen. Umgekehrt kann etwas wünschbar sein, aber unmöglich – zum Beispiel weil es nicht mit Naturgesetzen in Ein­klang steht. Man kann sich wünschen, dass Geldscheine an Bäumen wachsen – helfen tut das niemandem, denn es ist unmöglich.

Hoffnung richtet sich auf das Mögliche und basiert deshalb auf Wissen. An diesem Wissen sollten Zukunftsvisionen sich reiben. Tun sie das nicht, haben wir es regelmäßig mit naivem Optimismus zu tun, aber nicht mit echter Hoffnung. Die Phantasie, dass jetzt alles anders und besser werde, kommt in zahlreichen Beiträgen zum Ausdruck. Natürlich kann man sich wünschen, dass nach der Krise endlich ein effektiver Klimaschutz beginnt und wir auf eine nachhaltige Postwachstumsökonomie umschwenken. Es ist freilich leider nicht ausgeschlossen, dass die Klimapolitik jetzt ökonomischen Standortinteressen rigoros untergeordnet wird und dass das Leitbild „Nachhaltigkeit“ unter die Räder einer neu-alten quantitativen Wachstumsorientierung gerät.

Man muss angesichts der Transformationseuphorie nicht gleich von einer „kaltblütigen Enthemmung“ (Nico Hoppe) sprechen oder einen „suizidalen Optimismus“ (Henryk M. Broder) diagnostizieren. Aber Augenmaß in der wichtigen Diskussion über den Zustand der Gegenwart und die Gestalt der Zukunft darf man sich wünschen – gerade dann, wenn man möchte, dass die Gesellschaft aus dieser schrecklichen Krise am Ende etwas Gutes gemacht haben wird.