Wunder gibt es immer wieder.

Wunder gibt es immer wieder.

Wunder – im Ernst jetzt? Ja, tatsächlich. Denn: Wir wissen doch, dass es Wunder gibt – Ereignisse, die den Lauf der Dinge durchbrechen und die wundersam in der Zeit stehen. Das Wort „Wunder“ steht hier für die Möglichkeit von Unwahrscheinlichem und Unbekanntem und braucht keine esoterischen oder religiösen Bezüge. „Wunder“ fun­giert hier als Begriff für Dinge, die – sobald sie passieren – für aller­größte Überraschung sorgen oder vorher als extrem unwahr­scheinlich galten.

Was gemeint ist, lässt sich an drei Zahlen zeigen: 1989 – 7:1 – 1,5. 1989 und fast alles, was man politisch mit dieser Jahreszahl verbin­det, kann man getrost unter der Kategorie „Wunder“ verbuchen. Ein noch größeres Wunder war vielleicht die Französische Revolution 200 Jahre zuvor. Der Theologe Jürgen Moltmann spricht im Zusammenhang mit diesem Ereignis von einem „Erdbeben“ und schreibt: „Seit 1789 liegt das Land ‚Utopia‘ nicht mehr irgendwo jenseits der Meere, sondern hat sich auf dem Vehi­kel des Geschichtsglaubens und der Fortschrittsidee in die mögliche, zu erwartende oder zu wollende Zukunft verschoben.“ 1789 ist sozusagen die Mutter aller (modernen) politischen Wunder. Die Französische Revolution hat bewiesen, dass es solche Wunder gibt und dass eine andere Welt immer möglich ist.

Zu 1989. Die Ereignisse, die zur Demokratisierung Osteuropas, zur Wiedervereinigung Deutschlands und zum Zusammenbruch der Sowjet­union führten, hat niemand vorhergesehen. Soziologen, Ökonominnen, Geheimdienste: Alle waren höchst überrascht über die Ereignisse. Nie­mand hatte auch nur im Ansatz antizipiert, was sich da entwickeln würde. Das Auftauchen Gorbatschows und wohl noch mehr die historische Pres­sekonferenz, bei der Günter Schabowski die Öffnung der innerdeutschen Grenze verkündete: dramatische Beweise dafür, dass Personen und Momente, Unachtsamkeiten und Zufälle einen riesengroßen Unterschied machen können, dass Geschichte kontingent und die Zukunft immer offen ist – offen für sehr große Überraschungen.

11., 23., 24., 26., 29., 69., 79. – diese Zahlen stehen ebenfalls für ein Wunder, in diesem Falle ein sportliches: Sie stehen für die Minuten, in denen die sieben Tore fielen, die die deutsche Fußball-Nationalmann­schaft erzielte, als sie am 8. Juli 2014 die brasilianische Auswahl im Halbfinale der Weltmeisterschaft mit 7:1 besiegte. Dieser Sieg war ohne Zweifel ein Wunder. Heute ist, wenn man dem Internet glauben kann, „7:1“ in Brasilien eine Metapher für eine vernichtende Niederlage und „Tor für Deutschland“ eine Formulierung, die man nach einem Miss­geschick ausruft.

Für ein Wunder kann man auch die Bewegung Fridays for Future halten, die sich vor allem mit dem Instrument des Schulstreiks für politische Maßnahmen einsetzt, mit denen die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius begrenzt werden kann. Wenn man sich völlige Unvorhersagbarkeit dieser Bewe­gung und den Ablauf der Ereignisse anschaut, darf man auch hier von einem – politischen – Wunder sprechen. Der erste Schulstreik der Fri­days-for-Futures-Galionsfigur Greta Thunberg fand im August 2018 statt – weniger als ein Jahr später war die Klimakatastrophe das Thema in Wahlkämpfen, Koalitionsstreitereien und öffentlichen Diskussionen.

Sowenig wie den Mauerfall oder das 7:1 bei der Fußball-WM hat irgendjemand vorausgesagt, dass eine junge Frau aus Schweden das schafft, was tausende von Klimaforschern über Jahrzehnte nicht geschafft haben: dass die Öffentlichkeit sich so ernsthaft für die Klimakatastrophe interessiert, dass die Politik nicht umhinkommt, dass Thema endlich ernst zu nehmen. Bei aller Kritik am Umfeld Thunbergs kann man des­halb sagen, dass Fridays for Future durchaus ein wunder-volles Phäno­men ist. Wie „nachhaltig“ dieses Phänomen nach der Krise sein wird, ist eine offene Frage. Man darf hoffen, dass der Klimaschutz mit Wucht auf die gesellschaftliche Agenda zurückkehren wird.

Was ein „Wunder“ in der Corona-Katastrophe sein könnte, weiß ich leider auch nicht. Vielleicht ist die Einsicht hilfreich, dass es – auch in der gegenwärtigen Lage – sehr positive Überraschungen geben kann. Und auch wenn dann schon unendlich oft zitiert wurde, darf man auf den Satz Friedrich Hölderlins hoffen:

„Wo aber Gefahr wächst, wächst
Das Rettende auch.“

 

(Dieser Text ist ein überarbeiteter Auszug aus dem Kapitel Politische Wunder. Über Musik, Fußball und das ganz und gar Unerwartete des Buches Hoffnung.)