Konstruktivismus! Mehr zu Luhmann.

Es gibt, fast zwei Jahrzehnte nach seinem Tod, ein neues Buch von Niklas Luhmann: „Der neue Chef“. Sehr, sehr lesenswert – mehr im heutigen „Standard“. Gleichzeitig besteht aktueller Anlass, grobe Vereinfachungen zu beklagen, wenn es um Nachhaltigkeit geht. Zwei gute Gründe also, Herrn Luhmanns Beitrag zur Öko-Debatte mal wieder anzuschauen.

Dass Umweltveränderungen, die man wissenschaftlich beobachten kann, für sich noch keine Umweltprobleme sind, ist von entscheidender Bedeutung für die Möglichkeiten und Grenzen von Umweltschutzvorhaben, Weltrettungs­strate­gien und Nachhaltigkeitsleitbildern. Probleme entstehen also dadurch, dass die Gesellschaft bestimmte Veränderungen als Problem wahrnimmt, kommuniziert und bearbeitet. (Das Wort wahrnehmen trifft es bekanntlich gut: Etwas wird für wahr genommen.) Zugespitzt: Dass der Klimawandel eine Klimakatastrophe ist, sagen wir – nicht die Natur. Das ist kein abgehobener Blödsinn, sondern von entscheidender Bedeutung, wenn man die Reaktion oder Nicht-Reaktion von Gesellschaften auf Umweltveränderungen verstehen will.

Darauf kann man auch kommen, wenn man Niklas Luhmanns Werk heranzieht. Seine soziologische Systemtheorie läuft darauf hinaus, dass Gesellschaften nach recht konstruktivisti­schen Prinzipien funktionieren. Luhmann liefert einen begriff­lichen Zugriff auf die Gesellschaft, der einiges wegräumt und den Blick freimacht auf manches, was im Ringen um Nachhaltigkeit relevant ist. Zum Bei­spiel, warum „Steuerung“ so schwierig ist und es nicht ausreicht, über Wissen zu einem bestimmten Problem zu verfügen. Aus Luhmanns Perspektive ist die Gesellschaft in Funktionssysteme auf­ge­teilt, zum Beispiel: Wirtschaft, Politik, Kunst, Recht, Wissenschaft, Reli­gion. Diese Systeme, um es einfach zu formulieren, funktionieren anhand ihrer jeweils eigenen Regeln und Codes und Medien und haben es – um das Mindeste zu sagen – schwer, miteinander zu kommunizieren. Perso­nen und Institutionen und Gegenstände sucht man in dieser Welt ver­gebens – Gesellschaft ist aus dieser Perspektive Kommunikation und nur Kommu­nikation und nichts anderes. Systeme sind Netzwerke, die ihre eigene Welt konstruieren und konstituieren und sich entsprechend ent­wickeln. Klingt kompliziert, und das ist es auch.

Für viele Nachhaltigkeitsbewegte mag das Folgende darüber hinaus auch noch empörend sein, mindestens kontraintuitiv: „Es mögen Fische sterben oder Menschen, das Baden in Seen oder Flüssen mag Krank­hei­ten erzeugen, es mag kein Öl mehr aus den Pumpen kommen und die Durchschnittstemperaturen mögen sinken oder steigen: solange darüber nicht kommuniziert wird, hat dies keine gesellschaftlichen Aus­wir­kun­gen.“ Das ist ein häufig verwendetes (und wohl auch häufig miss­ver­standenes) Luhmann-Zitat aus dem Buch Ökologische Kommunika­tion, das einen konstruktivistischen Blick auf Umweltprobleme gut auf den Punkt bringt. Ob diese Aussage wirklich ontologisch gemeint ist oder nur im Hinblick auf die Perspektive hermetisch-autopoietisch-systemischen Denkens, muss uns hier nicht interessieren. Interessant ist, dass man sie ontologisch interpretieren kann und dass man damit einiges gedanklich aus dem Weg schafft und damit den Blick auf die Dinge erweitern kann.

Diese konstruktivistische Situation gilt für Systeme und für Men­schen. Wir können Welt und Wort nicht nebeneinander halten und einfach ihre „Korrespondenz“ überprüfen. Und das gilt entgegen einem über­aus weit verbreiteten Vorurteil auch für die ökologischen Bedingungen unseres (Über‑)Lebens. Ein tieferes Verständnis des ökologischen Pro­blems, so schreibt Ingolfur Blühdorn in einem luhmannianisch inspirierten Text, „kann man nicht dadurch erreichen, dass man überprüft, ob eine Ölpest wirklich Seevögel umbringt oder ob der zivilisatorische Fortschritt wirklich die Artenvielfalt reduziert. Die viel wichtigere Frage ist, warum und in welchem Ausmaß solche empirisch messbaren Phänomene und Entwicklungen als Probleme und Krisen kon­zeptualisiert werden können. Das ist allerdings eindeutig keine empiri­sche Frage.“ Was wir tun und lassen, hängt von unseren Interpretationen ökologischer, ökonomischer und sozialer Phänomene ab.

All dies heißt nun nicht, dass die Existenz realer Umweltprobleme bestritten wird. Wenn wir aufhören, über das „Ozonloch“ und den „Treib­­hauseffekt“ zu debattieren, bleiben diese Probleme trotzdem be­stehen – fraglich ist aber, was in diesem Kontext dann „Problem“ über­haupt bedeuten könnte. Denn Phänomene, die gesellschaftlich nicht ver­arbeitet werden, existieren für die Gesellschaft – für uns – nicht. Der „Treibhauseffekt“ existiert für die Gesellschaft, weil darüber kommuni­ziert wird – die Zunahme der CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre würde auch ohne die Kommunikation darüber existieren, bliebe aber ohne gesellschaftliche Resonanz. Die Folgen des CO2-Ausstoßes wären auch ohne Diskurs darüber „da“, aber nicht als gesellschaftlich wahr­ge­nommenes „Problem“.

Also: Natürlich gibt „da draußen“ eine biophysikalische Rea­lität, die von menschlichem Denken, Wünschen und Wollen völlig unab­hängig ist. Der hier relevante Punkt ist aber, dass wir uns in der Auseinandersetzung mit der Realität auf bestimmte Bilder beziehen, also auf bestimmte Repräsentationen, die im gesell­schaftlichen Diskurs entstanden sind. Wer das nicht sehen will, sollte sich nicht über die nachhaltige Erfolglosigkeit vieler Bemühungen wundern, die das leicht zustimmungsfähige Leitbild „Nachhaltigkeit“ in gesellschaftliche Realität übersetzen wollen.

(Überarbeitete Fassung eines Textes, der erstmals in Endlich im Endlichen erschienen ist.)