Clusterf**k, Vol. II: Nicht lustig!
Wie gestern gesagt: Über dieses Thema habe ich schon des Öfteren geschrieben: im Standard, auf diesem Blog und im Buch Ausnahmezustand, aus dessen Kapitel Clusterfuck der folgende Ausflug in die Luftfahrtgeschichte leicht überarbeitet entnommen ist.
Einer der schrecklichsten technisch-organisatorischen Clusterfucks der Geschichte ereignete sich am 27. März 1977 auf dem Flughafen Los Rodeos auf Teneriffa, als zwei Jumbo Jets auf der Startbahn kollidierten. Alles ging dort schief. Dieses Unglück ist bis heute das größte Unglück der zivilen Luftfahrt (wobei man ja heutzutage hinzufügen muss: größtes Unglück ohne terroristische Beteiligung). Der Untersuchungsbericht zu dieser Katastrophe liest sich wie ein Kriminalroman – fördert aber im Gegensatz zu den meisten Krimis keinen eindeutigen Schuldigen zutage. Am ehesten kommt für diese undankbare Rolle noch der Kapitän des niederländischen Jumbos in Frage. Jacob Veldhuyzen van Zanten war, was sich als Problem erweisen sollte, Ausbilder. Ein Mann, der viel Zeit im Flugsimulator verbrachte und der eine Autorität war, die KLM sogar als Werbefigur verwendete. Dieser Ruhm trug möglicherweise zum Verhängnis bei: Die anderen Menschen im Cockpit, das kann man dem Funkprotokoll entnehmen, trauten sich nicht recht, van Zanten zu widersprechen, der offenbar wild entschlossen war, endlich Teneriffa zu verlassen.
Aber ein echter Clusterfuck wird Teneriffa nicht allein durch menschliches Versagen im holländischen Cockpit, sondern durch die im Nachhinein unfassbar scheinende Kombination aus Faktoren, die alle zum Unglück beigetragen haben. Hätte nur einer dieser Faktoren gefehlt, wären möglicherweise nicht 583 Menschen gestorben. Wenn es keinen Anschlag auf den anderen Flughafen auf Teneriffa gegeben hätte, wenn es aufgrund von Umleitungen nicht so voll auf Los Rodeos gewesen wäre, wenn sich van Zanten nicht durch Vorschriften unter Zeitdruck gefühlt hätte, wenn seine 747 daher nicht vollgetankt worden wäre, wenn es keine kommunikativen Missverständnisse gegeben hätte, wenn die Sicht nicht durch dichten Nebel behindert gewesen wäre, wenn ein Überlagerungseffekt nicht einen Funkspruch unverständlich gemacht hätte, wenn die 747 der Pan Am nicht an einer Ausfahrt vorbeigefahren wäre, wenn jemand im holländischen Cockpit dem Kapitän widersprochen hätte – wenn nur eines dieser Clusterfuck-Elemente gefehlt hätte, dann wäre das Unglück vermutlich nicht geschehen.
Gerade die Cockpit-Situation im niederländischen Jumbo zeigt: Widerspruch und Kritik können helfen, Katastrophen zu verhindern. Aus dem Desaster wurden zahlreiche Lehren und Konsequenzen gezogen, Stichworte sind Kommunikationsregeln, Bodenradar, Pilotenausbildung und Dienstzeitenregelungen. Und was lernen wir? Einerseits, dass sich ein Clusterfuck niemals mit Sicherheit verhindern lässt. Zum anderen, dass klare und wahrheitsgemäße Kommunikation besser ist als falscher Respekt vor Autoritäten – seien es nun Flugkapitäne oder politische Akteurinnen oder Universitätsangehörige. Eine andere Clusterfuck-Vermeidungsregel: Redundanz einbauen! Bei allen Brücken-, Flugzeug- und anderen Technikkonstruktionen, bei denen es gefährlich werden kann, sind Sicherheitsabstände berücksichtigt. Eine Brücke kann üblicherweise weit mehr tragen als die zugelassene Last. Dass Passagierflugzeuge nicht wie Steine vom Himmel fallen, sobald ein Triebwerk ausfällt, hat mit dieser Form von Sicherheitsüberschuss zu tun. Das alles ist sehr beruhigend – und ineffizient: Ineffizienz (deutlicher formuliert: Verschwendung) ist hier eine Sicherheitskomponente.
Das gilt über Technik hinaus zum Beispiel für ökologische Themen wie die Klimaerwärmung, aber auch hinsichtlich der Nutzung von Zeit: Man kann mehr nachdenken und erwägen und warten, wenn man seine Zeit nicht zum Bersten ausfüllt. Das trifft übrigens auch für die Wirtschaft zu: Immer kürzer werdende Produkt- und Innovationszyklen bleiben nicht ohne Kosten für Konsumierende und Produzierende. Umwege erhöhen auch hier die Ortskenntnis – und reduzieren womöglich das Clusterfuck-Risiko. Im Sinne dieser Reduktion kann auch der Umbau monokultureller Wirtschaftsstrukturen hin zu mehr Diversität und Resilienz und wirken. Die Debatte darüber, welche Risiken und Abhängigkeiten eine ungebremste Globalisierung mit sich bringt, nimmt im Rahmen der aktuellen Krise neuen Schwung auf. Auch wenn Begriff dort keine explizite Rolle spielt: Implizit geht es ohne Zweifel um die Minimierung von Clusterfuck-Risiken. Dieses Ziel wird Gesellschaft und Wirtschaft in der nächsten Zeit ohne Zweifel intensiv beschäftigen.