Sieben Texte zur Krise
Wenn man sich an der Diskussion über die Krise und die Zeit danach beteiligen will, ist die Lektüre der folgenden Texte mindestens hilfreich, womöglich inspirierend – zumal auf einem Themenfeld, das nach wie vor in völlig unangemessener Weise von naturwissenschaftlicher Expertise dominiert ist. Kriterien für die Auswahl: Denkanregungspotenzial und Informationsgehalt. Ein weiteres Kriterium war die (kostenfreie) Verfügbarkeit im Netz – weshalb auch lesenswerte Texte wie die von Gertrude Lübbe-Wolf (FAZ vom 24. März) und Gustav Seibt (SZ vom 26. März) hier fehlen. Kein Kriterium waren Geschlecht, Nationalität oder Positionierung. Die Texte entsprechen also (natürlich) nicht notwendigerweise meiner Meinung. Und, letztes Kriterium: Kein Bullshit.
1.
Die „Ad-hoc Empfehlung“ des Deutschen Ethikrates mit dem Titel Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise. Ein tief bohrender Text über die tragischen Abwägungsprozesse, die uns bevorstehen – oder mindestens den Leuten, die gerade Entscheidungen treffen müssen. Absolut lesenswert. Auszug: „Der ethische Grundkonflikt erfordert die Abwägung des erhofften Nutzens einer Strategie körperlicher Distanz für die dauerhaft belastbare Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems mit den befürchteten oder unmittelbaren Schäden für die politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Lebenslage derjenigen Personen oder Personengruppen, die von dieser Strategie unmittelbar oder mittelbar betroffen sind. Solche Abwägungen, die immer auch Nützlichkeitserwägungen einschließen, sind ethisch einerseits unabdingbar, andererseits nur insofern zulässig, als sie keine Grund- und Menschenrechte oder weitere fundamentale Güter auf Dauer aushöhlen oder sogar zerstören. Auch der gebotene Schutz menschlichen Lebens gilt nicht absolut. Ihm dürfen nicht alle anderen Freiheits- und Partizipationsrechte sowie Wirtschafts-, Sozial- und Kulturrechte bedingungslos nach- bzw. untergeordnet werden. Ein allgemeines Lebensrisiko ist von jedem zu akzeptieren.“
2.
Um Abwägungen gegen es auch in Schluss mit dem Schulterschluss! von Florian Klenk. Er schreibt in seinem Schluss-Plädoyer unter anderem: „Um existenzielle Abwägungen demokratisch zu legitimieren, muss die ‚geschlossene Republik‘ schon bald in den Streitmodus der offenen Gesellschaft zurückkehren, auch um harte Maßnahmen zu legitimieren.“
3.
Ebenfalls im Falter ist ein früher und sehr wichtiger Text von Judith Kohlenberger erschienen: Vor dem Virus sind alle gleich? Mitnichten. Kohlenberger lenkt unsere Aufmerksamkeit auf eine leider nach wie vor völlig unterschätze Dimension des Desasters: Ungleichheit. Ein sehr pointierter Beitrag, in dem es unter anderem heißt: „Selten waren Klassen- und Einkommensunterschiede so deutlich im Alltag sichtbar.“
4.
Antonio Scuratis Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit dem Titel Mailand – Ein Zeitalter geht hier zu Ende. Er schaut aus dem Fenster und trauert um die „glücklichste Generation der Menschheitsgeschichte“, deren Mitglieder nun, so Scurati, „das Ende ihrer Welt genau dann erleben mussten, als sie schon zu alt waren, um auf eine neue Welt zu hoffen.“ Ein durchaus böser und erschütternder Text.
5.
Mit einem ganz anderen Blick auf die Welt hat sich Branko Milanowic zu Wort gemeldet. Unter der Überschrift The Real Pandemic Danger Is Social Collapse bringt der Verteilungsökonom in Foreign Affairs seine Sorgen vor einem gesellschaftlichen Zusammenbruch zum Ausdruck. Der Titel sagt es: Milanovic schätzt die Lage als ernst ein. Sehr ernst. Die ökonomischen Auswirken seien heftig und potenziell katastrophal, trotzdem: „the human toll of the disease will be the most important cost and the one that could lead to societal disintegration. Those who are left hopeless, jobless, and without assets could easily turn against those who are better off.” Und, ein wahres Horrorszenario: „If governments have to resort to using paramilitary or military forces to quell, for example, riots or attacks on property, societies could begin to disintegrate.”
6.
Ivan Krastevs sehr früh erschienener Text im New Statesman mit dem sprechenden Titel The seven early lessons of the global coronavirus crisis. Neben vielen klugen Gedanken enthält der Beitrag auch den schon legendären Satz: „It will be the ultimate irony of history if Donald Trump loses the forthcoming US presidential election because of a radical backlash against globalisation that he championed, and if he ends defeated by a virus that originates from China and has the name of Mexican beer.”
7.
Last but not least: ein Beitrag auf dem Blog des Merkur vom neuen Stern am deutschen Denkerhimmel. Moritz Rudolph macht sich unter der Überschrift Kommt jetzt der globale Babeuf? sehr grundsätzliche Gedanken über die Lage der Dinge. Wahrlich keine leichte Kost, aber dass der Autor es seinem Publikum nicht leicht macht, lässt den Text im gegenwärtigen Diskursklima umso heller strahlen. Rudolph schreibt gewissermaßen eine kurze Geschichte der Globalisierung. Ich kann das hier nicht zusammenfassen und reiße stattdessen folgendes Zitat aus dem Zusammenhang: „Dass das Virus im spätkommunistischen China unter kapitalistischen Bedingungen ausbrach (Wildtierhaltung für wachsende Gourmetmärkte) und sich verbreitete (über die Globalisierungsrouten), im kapitalistischen Westen jetzt aber zaghafte kommunistische Sehnsüchte weckt und den Liberalismus zurücknimmt, ist schon ein Ding, das zeigt, wie verworren es hier zugeht und was da alles aufbricht“ – und auf diese und andere Verworrenheiten werden wir uns wohl einlassen müssen, wenn wir die Lage gedanklich erfassen wollen.
Und das sollten wir, wenn wir etwas Gutes aus der Krise machen wollen. Die Zukunft ist offen – und deshalb dürfen wir hoffen. Es gibt Strukturen und Trägheiten und Dynamiken – aber keine Automatismen. Wie die Zukunft aussieht, hängt deshalb auch vom Streit um diese Zukunft ab. Dass dieser Streit offen und ohne Denkverbote und Sprechgebote geführt werden kann, ist für das Überleben der offenen Gesellschaft essentiell.