Moments of truth

Den Moment der Wahrheit kennt man nicht nur im Leben, sondern auch in der Wirtschaft – zum Beispiel, wenn man es mit Marketing oder Kundenzufriedenheit zu tun hat. Moments of truth kann man erleben, wenn ein neues Produkt nicht wie gewünscht funktioniert oder wenn man sich händeringend an eine Servicehotline wendet. Oder, um einen berühmten reputationsvernichtenden Wahrheitsmoment zu zitieren, wenn man eine Gitarre transportieren will.

Hier und heute geht der Begriff womöglich weiter. Wo so viel Nichtwissen und Verunsicherung herrscht wie in diesen Wochen, fragen sich viele Führungskräfte, Mitarbeitende und Kundinnen, wie es weitergeht. Dem sollte man sich stellen. Nicht nur wegen der Weisheit Never waste a good crisis. Sondern weil die Fragen ja da sind. In dieser Lage schlicht zum Business as usual überzugehen, könnte sich als „nachhaltiger“ Fehler erweisen. Wir erleben Momente der Wahrheit auf eine ganz grundsätzliche Art und Weise.

Wo man echte Hoffnung auf eine gute Zukunft haben will, hilft Optimismus ebenso wenig wie Pessimismus. Man kann das kaum besser auf den Punkt bringen als Hans Magnus Enzensberger: „Auch die Apokalyptiker glauben ja an eine einwandfrei absehbare Zukunft, die keinen Zickzack­kurs kennt und keine Ungleichzeitigkeit zulässt. Ihr Pessimismus ist ebenso gradlinig und phantasielos wie der Optimismus, der die Fraktion des unaufhaltsamen Fortschritts auszeichnet.“ In der Tat – und echte Hoffnung ist eben nicht gradlinig und phantasie­befreit, sondern operiert mit Umwegen (die auch hier die Ortkenntnis er­höhen) und Gedankenspielen.

Spielen wir also kurz gedanklich mit den Apokalyptikern, genauer: mit der Apokalypse. Für manche das Wort der Stunde, aber auch ohne dunkelschwarzen Pessimismus durchaus aussagekräftig. Denn Apokalypse steht ja für Offenbarung oder, etwas weniger christlich gesagt, für „Enthüllung“. Man könnte also fragen, was gerade enthüllt wird. Viele glauben die Antwort schon zu kennen und posaunen sie vehement in die Welt hinaus: das Ende der Globalisierung. Das Ende des „Neoliberalismus“. Das Ende des Kapitalismus. Die Gerüchte über dessen Tod, könnte man mit Mark Twain sagen, waren bisher stets übertrieben. So könnte es auch diesmal sein.

Aber dass die Corona-Krise gar nichts macht, ist auch extrem unwahrscheinlich. Was genau, kann man freilich nicht wissen. Und dieser Punkt des beunruhigenden Nicht-Wissens ist viel interessanter als die vermeintlichen Gewissheiten darüber, was jetzt alles endet und beginnt. Breitbeinig vorgetragene Zukunftsszenarien bringen weder die Gesellschaft noch Unternehmen oder anderen Organisationen etwas. Viel produktiver scheint mir, tastend und fragend an die Sache heranzugehen.

Sicher: Die allermeisten werden, sobald es wirklich wieder losgeht, alle Hände voll zu tun haben. Tagesgeschäft. Back on track, so schnell wie möglich. Verständlich. Dennoch wäre es fahrlässig, nach dem Schock, der wohl allen Akteurinnen und Akteuren in den Knochen steckt, „einfach so“ weiterzumachen. So wie man an Schulen nach der Corona-Zwangspause den Schülerinnen und Schülern gewisse Möglichkeiten bieten muss zum Nachdenken, Nachspüren und Nachfragen, sollten auch Unternehmen geeignete Räume schaffen, um genau das zu tun.

Zugespitzt: Wir brauchen Reflexionsbereitschaft und Kulturarbeit – Arbeit an dem, wie wir arbeiten, was wir wollen, welche Ziele wir haben, wie wir die erreichen wollen. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, aber auch eine individuelle und unternehmerische. Es gilt, das Bedürfnis nach Orientierung im Chaos ehrlich zur Sprache zu bringen. Jede Organisation tut gut daran, das Latente manifest werden zu lassen, das Verborgene an die Oberfläche zu holen, sichtbar zu machen. Was ist da passiert? Wie geht es weiter? Was ist anders? Was gibt Orientierung?

Wer sich an diese Fragen nicht herantraut, riskiert einfache „Lösungen“, die sich als Schein-Lösungen erweisen könnten. Corona ist bei allen Katastrophalem eine Lern-Chance – aber wohl auch eine Lern-Notwendigkeit. Und die kann nur wahrnehmen, wer sich hinzuschauen traut. Vielleicht entdeckt man dann, wie wichtig Leitbilder sind. Man darf die Hoffnung haben, dass sich jetzt Gewicht, Substanz und Kraft von Ideen wie Nachhaltigkeit, Verantwortung und Resilienz zeigen. Diese Begriffe müssen hier und heute mehr sein als leicht zustimmungsfähige Schlagworte. Auch für diese Leitbilder ist er womöglich gekommen – der Moment der Wahrheit.

To be continued.