Über Normalität und Normalisierung.

„Könnte ich meine immerwährenden Anstrengungen,
normal zu erscheinen, für etwas Besseres einsetzen?“
(Fischli / Weiss)

 

Wir erleben gerade einen Schock. Ein Schock war auch das Reaktorunglück, das sich 2011 im japanischen Fukushima ereignete. Zwecks Schockbe- und verarbeitung wurde damals ein Büchlein mit den Titel Lost in Transformation veröffentlicht. Auf dem Titelbild sieht man Menschen mit Masken, und das scheint mir nicht der einzige Bezug zur Gegenwart… Das Folgende ist ein minimalst angepasster Wiederabdruck des Kapitels Normalität aus diesem Buch. Den Wiedererkennungswert mit Blick auf das Hier und Heute möge jede und jeder selbst bewerten.

>> Nach der Finanzkrise war viel von der new normalcy die Rede, von der neuen Normalität. Jetzt sei alles anders, so hieß es – und also auch die Normalität. Mit etwas Abstand muss man sagen: Zumindest die Lieder vom Ende des Neoliberalismus und des Wachstumsglaubens (die auch ich mitgesungen habe) kamen verfrüht. Mindestens. Aber dass die Große Rezession etwas mit Normalität zu tun hat oder hätte haben können, liegt auf der Hand. Dass es immer noch mehr gibt, hat sich als nur scheinbare Selbstverständlichkeit entpuppt. Das Thema ist auch hier berührt, und zwar ähnlich grundsätzlich wie bei der Finanzkrise. Unter der Überschrift Die Wiederkehr des Verdrängten schreibt Jürgen Kaube wenige Tage nach der Katastrophe in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Das Bedürfnis, in einer normalen Welt zu leben, ist enorm und setzt sich gegen jedes besseres Wissen durch. Die Politik bezieht daraus die Lizenz, auf Zeit zu spielen und Stimmungen abzuwarten. Normale Welt, das heißt hier: eine Welt, die gar nicht genug an Strom erzeugen kann.“

Ja, es ist normal, dass es nie genug geben kann, und das ist in einer endlichen Welt ein Problem. Ohne Maß, mit einer gewissen Ziellosigkeit. Zu einem durchaus ähnlichen Thema lässt Frank Schirrmacher uns (mit Referenz zu Autoren, die ich nicht kenne) wissen, dass es einen Moment gebe, in dem der Lebenskreis sich schließe und man wieder dort stehe, wo man angefangen habe. Genau deshalb redeten so viele von Tschernobyl und Three Mile Island. Schirrmacher weiter: „In solchen Zeiten können Worte wie ‚Übergang’, ‚Brückentechnologie’, ‚Transition’ nur noch Triviales bedeuten. Denn das war ja die Erfahrung der letzten Jahrzehnte: dass alles nur ein Übergang ist – und ‚Übergang’ (…) ist in der Moderne selbst zu einem Begriff aus dem Wörterbuch der Apokalypse geworden, weil er als Erfahrung einer unaufhörlichen Krise erlebt wird.“

Im Zusammenhang mit Fukushima, so Schirrmacher, gehe es darum, etwas zuzugeben – nämlich, dass man es hier nicht mit einem Übergang zu tun habe, sondern mit einem Ende. Klingt gut, ist aber zu einfach. Denn es stehen Grundsatzbegriffe zur Debatte. Falsch, sie stehen nicht zur Debatte. Aber sie müssten zur Debatte stehen, wenn Fukushima mehr Folgen als Verschmutzung, Unbewohnbarkeit und Leid haben soll. Beispiel für einen solchen Grundsatzbegriff: der „Lebensstandard“. Dass der gehalten werden muss, scheint eine unhinterfragbare Behauptung zu sein. Das wird der Situation aber nicht gerecht. Ich plädiere nicht für eine Absenkung „unseres“ Lebensstandards. Aber es scheint notwendig, nach den Faktoren zu fragen, die diesen bestimmen. Und, vielleicht wichtiger: Lebensstandard ist eben ein Standard, eine Norm, eine Form der Normalität. Wenn wir globale Umwelt- und Energiefragen beantworten, müssen hier „ran“. Was ein gutes Leben und was not-wendig ist, hängt (zumindest ab einem bestimmten Versor­gungsniveau) also von Kriterien der Normalität ab – und die sind in unter­schiedlichen Zeiten ebenso unterschiedlich wie für unterschiedliche Ein­kommensklassen in einer gegebenen Gesellschaft.

Diese Normalität gilt es zu hinterfragen, wenn man in einer endlichen Welt „nachhaltig“ leben und wirtschaften will. Solange wir ausschließlich auf Technik und Effizienz setzen, wird sich gewiss nichts Grundlegendes ändern. Der Bedarf an Energie wird nur dann zu senken sein, wenn wir über die kulturelle Dimension des Themas nachdenken und darüber, wie ein gutes Leben gelingen kann – und welche Kriterien überhaupt bestimmen, was „gut“ ist. Diese Güte hat gewiss nicht nur mit Begriffen wie Wachstum, Innovation und Sparsamkeit zu tun, sondern auch mit Schrumpfung, Exnovation und Großzügigkeit. Was „normal“ ist, wird sich ändern (müssen).

Normalität bestimmt, was angemessen und effizient und verschwenderisch ist – und wenn Wachstum als „normal“ gilt, hat dies gleichfalls tiefgreifende Folgen für Veränderungsmöglichkeiten in Richtung „Nachhaltigkeit“ und Energiesicherheit. Knappheit und Verschwendung beispielsweise definieren sich stets gegenüber einem jeweilig als normal erachteten Notwendigen – aber diese Normalität wandelt sich. Wir „bemerken“ die Kontingenz nicht, was allein schon ein guter Grund für Ironie ist. Deshalb entgeht uns meist auch die buchstäbliche Relativität von Konzepten wie Knappheit und Effizienz und Verschwen­dung. Damit sind wir freilich bei einem Grund­problem, um das es hier geht: die von Ziellosigkeit geprägte Endlosschleife wachsender Güter­versorgung und wachsender Knappheit. Aus dieser Schleife kann man nicht durch Effizienz aussteigen, sondern nur mit Großzügigkeit und Maß.

Jürgen Link hat einen auch in diesem Zusammenhang bemerkens- und bedenkenswerten Aufsatz verfasst: Das „normalistische“ Subjekt und seine Kurven. Er ist in einem Buch erschienen, dessen Titel einen zentralen Zusammen­hang auf den Begriff bringt: Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit. Das mit der Produktion von Selbstverständlichkeit ist etwas, das man heute mit Fug und Recht über nach vorne und oben weisende Pfeile in Dia­grammen sagen kann, die quantitative Veränderungen (zum Beispiel von Wirtschaftsleistung oder Energieverbrauch) im Zeitablauf zeigen. Sie sind „normal“, und mehr als das: sie sind normalisierend. Obschon dauerndes Wachstum der Wirtschaft in der größeren historischen Perspek­tive ein ganz und gar ungewöhnliches Phänomen ist, das sich seit dem 18. Jahrhundert von England aus verbreitet hat, kommt es den Bewoh­nern der reichen Länder als etwas sehr Normales vor. Das Schockhafte der Finanzkrise hatte, wie schon angedeutet, gewiss genau hiermit zu tun: Dass eine Nor­malität brüchig geworden ist, die grundlegender Teil der Alltags­erfah­rung und ‑erwartung geworden war. Ähnliches lässt sich wohl über Fukushima sagen.

Link weist zu Recht darauf hin, dass Wachstumskurven nicht für sich und nicht isoliert „funktionieren“, sondern ihre Wirkung mit Statistiken und Erzählungen und mit anderen Diskursen und Bildern zusammenhängen. Bilder tragen zur Normalität bei, sie sind sozusagen an ihrer Produktion beteiligt. Ein Bild kann aber auch ein starkes Symbol dafür sein, dass etwas zu Ende geht. Die Flugzeuge, die sich in die Türme des World Trade Center bohren, waren so ein Bild. Der Reaktor von Tschernobyl war eines. Und jetzt das Bild des Kraftwerks von Fukushima, das, wie man so sagt, „in die Luft fliegt“. Ich fand die Explosion, ehrlich gesagt, optisch eher unspektakulär. Dennoch war es ein Knall, der sich nicht überhören ließ und ein Bild, das nicht zu übersehen war. Florian Illies schreibt unter der Überschrift Die Macht der Bilder: „Wir haben im Fernsehen bislang nicht den japanischen Kaiser im Einklang mit der Natur seiner Wellenrobe gesehen. Sondern nur Männer in seltsamen hellblauen Arbeitsanzügen, die in Mikrofone sprechen. Sie wollen so wirken, als könnten sie etwas beherrschen. Doch sie haben keine Chance mehr gegen das Bild der Unbeherrschbarkeit, das sich für immer in unserem Kopf festgesetzt hat.“ <<

Soweit. Unberrschbarkeit ist sicher ein Stichwort, das uns in der nächsten Zeit noch intensiv beschäftigen wird. Wenn von (neuer) Normalität die Rede ist, bewegen wir uns zwischen Unbeherrschbarkeit und Management. Was man dabei mitdenken sollte: Wer von einer neuen Normalität spricht, hat ganz gewiss auch eine bestimmte Form der Normalisierung im Kopf. Naivität ist hier so unangebracht wie Wachsamkeit notwendig.