„Wir.“
Anlässlich der vehementen Anrufung des „Wir“ in diesen Tagen und Wochen hier ein paar Gedanken zu diesem nicht eben unschuldigen Wörtchen. Das Folgende ist ein minimalst angepasster Ausschnitt aus dem Kapitel Wir. aus dem 2018 erschienenen Buch Ausnahmezustand.
>> Wir! Wer? Tut mir leid, aber „Wir“ ist ein Fake-Wort: „Uns“ gibt es gar nicht. Sicher, Sie und mich gibt es, aber ein auch nur halbwegs homogenes „Wir“ gibt es nicht, kann es nicht geben – und das ist ja auch gut so. „Wir“ sind trotzdem überall, oder besser: Das Wörtchen „Wir“ ist überall und verbindet reichlich paradoxe Wirkungen: Es ruft zur Einheit auf, und im Zuge eben dieser Bewegung schließt es nicht selten auch aus. Fakt ist: Es ist überall. Wie ich mal gehört habe, hat Ivan Illich von einer verwirrenden „Verwirung“ der Gesellschaft gesprochen. Ich konnte das nicht verifizieren, aber gut ausgedacht wär’s allemal: Denn in der Tat sind viele Diskurse, die für den Ausnahmezustand relevant sind, von einer nachhaltigen Ver-Wir-ung geprägt.
Die hat, wie schon angedeutet, eine Doppelfunktion, die in Wirklichkeit eine Funktion ist. Diese eine Funktion ist die Teilung, und die Doppelfunktion hört auf die Namen Inklusion und Exklusion. Wer bei „uns“ dabei ist, gehört zum Wir und ist inkludiert. Alle anderen sind exkludiert. Das ist nicht nur beim Daesh (vulgo IS [„Islamischer Staat“]) so, bei dem die Teilung der Welt ja zum Kerngeschäft gehört, sondern auch bei Populistinnen, bei denen die Teilung der Welt ebenfalls zum Kerngeschäft gehört, aber auch bei jedem Verein und bei Staatsangehörigkeiten.
„Wir“ steht beim Populismus für die Abgrenzung nach oben (gegen die „Eliten“) und gleichsam zur Seite oder nach draußen (gegen Ausländer und Flüchtlinge) – insoweit kann man von horizontalem und vertikalem Populismus sprechen. Wenn die Populistin das „Wir“ anspricht, betreibt sie Inklusion mit dem Ziel der Exklusion. Populisten brauchen nicht nur ein verqueres Reinheitsideal, sondern auch die Möglichkeit, ihren Zielgruppen ein Zugehörigkeitsgefühl zu geben, das wesentlich von der Abgrenzung von und vom anderen lebt.
Dieses „Wir“ wird gleichsam deklamiert, festgestellt, angerufen, scheinbar ohne dass dies in irgendeiner Weise reflektiert werden muss. Das ist die Stärke des populistischen „Wir“: Wo man sich rhetorisch gegen korrupte „Eliten“ oder bedrohliche „Fremde“ zu verteidigen meint, reicht sozusagen der Zauber des gemeinsamen Augenblicks, um ein einheitlich anmutendes und jedenfalls angenehm kuhwarmes „Wir-Gefühl“ herzustellen. Diese Emotionalisierung macht populistische Bewegungen so stark, denn sie funktioniert einfach und unmittelbar.
Wer sich dem entgegenstellen will, hat es schwerer als die Populisten, denn, wie Jan-Werner Müller es formuliert: „Das demokratische ‚Wir‘ ist keine Tatsache, die man einfach so konstatieren kann, sondern ein anstrengender Prozess, bei dem Zugehörigkeit immer wieder neu ausgehandelt und erstritten wird.“ Ohne diesen Streit geht es nicht, niemals. „Reinheit“ ist hier so wenig zu haben wie Einheit. Die demokratische Sache, so kann man mit Fred Sinowatz konstatieren, ist eine komplizierte Sache. Deshalb gilt auch: „Mit einem ‚Aufstand der Anständigen‘, die sich gegenseitig ob ihres Anstandes gegenseitig auf die Schulter klopfen, ist es nicht getan.“ In der Tat. Wenn aus dem Ausnahmezustand etwas Gutes werden soll, braucht man kein Schulterklopfen, sondern Analyse, Kampf und Glück. Das ist nicht trivial. <<