Hoffnung: Gegen falsche Bescheidenheit.

Hoffnung: Gegen falsche Bescheidenheit.

Da hier viel von Realismus, Bescheidenheit und Augenmaß die Rede ist, soll im Folgenden etwas anderes betont werden: Man kann nicht nur zu viel hoffen – sondern auch zu wenig. Das hat eine individuelle Dimension: Bekanntlich bereut man besser Dinge, die man getan hat – statt sich über Sachen zu ärgern, die man nicht ausprobiert hat. Ernst Bloch schreibt: „Keiner von uns al­len könnte nicht auch ein anderer sein. Ein Strauch tut sich vorerst genug damit, einer zu sein. Doch aus einem Menschen kann sozusagen alles werden, unfertig wie er ist.“ Das klingt überraschend ergebnisoffen. Freilich stellt er diesen Sätzen ein Chesterton-Zitat voran, das dann schon besser zur Bloch‘schen Philosophie zu passen scheint: „Ein Mann, der nicht eine Art Traumbild seiner Vollendung in sich trägt, ist genauso monströs wie einer ohne Nase.“

Ganz anders Michel Foucault, dessen Hoffnung eher spielerischer Natur ist: „Das Hauptziel im Leben und bei der Arbeit ist, jemand anders zu werden, als man am Anfang war. Wenn Du ein Buch schreibst, und wüsstest am Anfang schon, was Du am Ende sagen wirst, hättest Du dann wohl den Mut, es zu schreiben? Was für das Schreiben und eine Liebesbeziehung gilt, gilt auch für das Leben. Das Spiel lohnt sich, weil wir das Ende nicht kennen.“ Vieles kann pas­sieren. Sogar Wunder. Zumindest Überraschungen.

Dazu eine kleine Geschichte. Am 1. Januar 1962 spielt in London eine Gruppe junger Männer in einem Studio vor, um einen Plattenvertrag zu bekommen. Sie spielen über ein Dutzend Lieder, darunter Love of the Loved, Like Dreamers Do und Crying, Waiting, Hoping. Am Ende wird die Hoffnung der Musiker ent­täuscht: Es gibt keinen Plattenvertag. Denn, so wird ihnen von Decca-Manager Dick Rowe beschieden, Gitarrenmusik habe keine Zukunft. Diese Meinung gilt als größte Fehleinschätzung in der Historie der Plat­tenindustrie und ist ebenso legendär geworden wie das Vorspielen, das als „Decca Audition“ Geschichte geschrieben hat. Bei den Musikern handelte es sich um – die Beatles.

Dick Rowe glaubte nicht an Wunder. Ganz sicher ist die deut­sche Fußball-Nationalmannschaft beim WM-Halbfinale 2014 nicht in der Erwartung aufs Feld gelaufen, die Brasilianer mit 7:1 vom Platz zu fegen. Und – ein paar Nummern größer – natürlich war es schwer, Anfang der 1980er Jahre ernsthaft auf ein Ende der deutschen Teilung zu hoffen. Doch dann erfuhr die Welt, wie der Theologe Jürgen Moltmann es ausdrückt, auf dem Feld der Politik tatsächlich „‚Zeichen und Wunder‘“. „Die Geschichte beschämte unsere Kleingläubigkeit“, so Moltmann – nämlich in den his­torischen Momenten Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, als die Sowjetunion sich auflöste, die deutsche Teilung endete und in Süd­afrika das Apartheitsregime ohne Bürgerkrieg aus der Welt geschafft wurde: „Warum haben wir nicht größer gehofft?“ Zu wenig Hoffnung zu haben, so könnte man formulieren, birgt das Risiko von Unterlassungs­sünden.

Das ist zumal dann der Fall, wenn Business as usual eindeutig keine Op­tion ist. Für Ökologie, Wirtschaft und Gesellschaft gilt: Wandel wird kommen. Die relevante Frage ist: Erleiden wir ihn oder erlauben wir uns das Wagnis der Gestaltung? Im Ernst wird wohl niemand für das Leiden optieren. Nein – die allermeisten Menschen werden eine Gestaltung des Wandels mit einem Ziel präferieren: dass die Zukunft besser sein möge als die Gegenwart. Die Lage der Welt fordert dazu auf, Hoffnung zu wagen. Falsche Be­scheidenheit ist hier unangebracht.

(Dieser Text ist ein überarbeiteter Auszug aus dem Buch Hoffnung.)